«Ich trete bescheiden und dankbar ab»
07.12.2021 RegionEin Urgestein geht in Pension. Am Mittwoch wird der 79-jährige Alois Wyss aus dem luzernischen Grosswangen in Thun seine letzte Viehauktion l eiten. Das Berner Oberland lag ihm stets sehr am Herzen.
PETER SCHIBLI
Knapp über 60 Jahre leitete Alois Wyss in der ...
Ein Urgestein geht in Pension. Am Mittwoch wird der 79-jährige Alois Wyss aus dem luzernischen Grosswangen in Thun seine letzte Viehauktion l eiten. Das Berner Oberland lag ihm stets sehr am Herzen.
PETER SCHIBLI
Knapp über 60 Jahre leitete Alois Wyss in der Zentralschweiz, im Emmental, im Berner Oberland und sogar in der Westschweiz öffentliche Viehauktionen und private Versteigerungen. Es gab Jahre, in denen er insgesamt 55 000 Kilometer von Veranstaltung zu Veranstaltung fuhr. Schweizweit zählt man 15 öffentliche Gant-Orte. Seinen Wohnort behielt der vierfache Familienvater im luzernischen Grosswangen (in der Nähe von Sursee) bei. Dass keines seiner Kinder in seine Fussstapfen trat, bedauert der Hüne sehr – schon sein Urgrossvater, der Grossvater und der Vater waren Gantrufer.
Unterhaltsame Wortsalven
Bestens bekannt ist Wyss auch im Frutigland: Die Käufer und Verkäufer lieben seine Zuverlässigkeit, seine Verbundenheit mit dem Bauernstand, seine Effizienz, seinen Witz. Im Ring zeigt er maximale Konzentration und Intensität. Kein Angebot entgeht dem Ausrufer. Wenn ihm eine Offerte zu gering und der Wert einer Kuh höher als geboten erscheint, steigert er seine Sprüche, nimmt potenzielle Käufer ins Visier und unterhält das Publikum mit seinen Wortsalven.
«Das Chalb het e Riesezuekunft. Pack die Glägeheit bim Schopf, die Chance chunnt nie meh.» – «Du bisch e bäumige Ma und wirsch prima schlafe, wenn du die Bombe-Chueh choufsch.» – «Das Tier passt genau i di Stall. Du wirsch dr Chouf nid bereue.» – «Mit dere Chue gieng i lieber spaziere als mit dr Sommaruga», lauten einige Müsterchen aus seinem Repertoire. Ist der Kauf einmal besiegelt, folgt stets ein herzlicher Glückwunsch: «Grandios. Viel Glück mit däm Tier.»
Vor Beginn einer Auktion geht der Profiverkäufer genussvoll durch die Reihen der anwesenden Bäuerinnen und Bauern, grüsst mal links, mal rechts und informiert sich im Büro bei den Organisatoren über Besonderheiten der Auktion. Dabei muss auch er sich regelmässig Sprüche gefallen lassen: «Hesch d’Pille hüt scho gno, Alois?», ruft ein Bekannter quer durch die Festwirtschaft. Im Vorbeigehen scherzt Wyss mit einem offensichtlich kaufwilligen Bauern: «Wenn du hüt zäh Chüeh choufsch, lueg i, dass du die Zähti gratis überchunsch.»
Sozialkompetenz und das richtige Gespür
Am 28. Januar wird Wyss 80. «Alt genug, um als Gantrufer aufzuhören», wie er lakonisch meint. Die Markthalle Thun, in der er am Mittwoch von seinem Nachfolger Ferdinand Oehrli feierlich verabschiedet wird, gehört zu seinen Lieblingsplätzen. Überhaupt ist dem Verkaufsprofi das Berner Oberland sehr ans Herz gewachsen. Er mag die Berge, die grossen Familien. Hier gibt es überdurchschnittlich viele kleine Bauern, die auf ihren Betrieben um ihre Existenz kämpfen. Die Mentalität der Oberländerinnen und Oberländer ist für Wyss besonders: «Die Leute sind bescheiden, aufrichtig und dankbar.»
Man spürt es sofort: Sozialkompetenz und das richtige Gespür für schwierige Entscheidungen zählen zu seinen Stärken. Wyss hat mehrere Fälle erlebt, in denen ein zur Auswanderung fest entschlossener Bauer sein gesamtes Hab und Gut verkaufen wollte – und die Ehefrau den Gantrufer noch am Abend vor der Auktion unter Tränen anrief und bat, ihren Mann von seinem Vorhaben abzubringen. «Solche Situationen haben mich fast zerrissen», erzählt der Luzerner.
Nahe gingen ihm auch die sieben Suizide von Landwirten, die zu Auktionen führten. Eine negative Erfahrung war für ihn eine Auktion in Worb vor drei Jahren: Obwohl er nicht Organisator der Veranstaltung war, prasselte die Kritik wegen Unzulänglichkeiten auf ihn ein. «Ich musste meinen Buckel für etwas hinhalten, was ich nicht zu verantworten hatte», bedauert Wyss noch heute. Doch der Vollblutrhetoriker hat auch viele schöne Erinnerungen an seine berufliche Tätigkeit. Dazu gehört die Gant einer Auswandererfamilie in Bulle (Kanton Freiburg). Für sie durfte er vor drei Jahren 150 hochwertige Tiere, eine schöne Immobilie und einen grossen Maschinenpark versteigern. Der Erlös erleichterte der Familie den Neustart in Übersee.
Erfinder der modernen Gant
Alois Wyss gilt als Erfinder der modernen Gant. Vor 44 Jahren probierte er in Gstaad etwas Neues aus und musste in den ersten Jahren viel Kritik und Widerstand erfahren. «Die ganze Schweiz lachte über mich», erinnert er sich. Die Landwirte waren skeptisch, die Viehhändler wollten nicht kooperieren, ab und zu scheiterte er an seinem hausgemachten Perfektionismus. Doch dann setzte sich die heutige Form von Viehauktionen durch und wurde landesweit zum Erfolg.
Verändert haben sich in den letzten 60 Jahren die Grösse der Maschinenparks und die Leistungsfähigkeit des Viehs. Während Milchkühe damals im Durchschnitt 20 Kilogramm Milch pro Tag gaben, versteigert Wyss heute regelmässig Kühe mit einer Tagesleistung von bis zu 50 Kilogramm. Standardisiert ist der Einlieferungsprozess: Wer eine Kuh zum Verkauf abgibt, muss deren Gewicht, die Milchleistung sowie den Fett- und den Eiweissgehalt der Milch angeben. Von Interesse ist auch, ob das Tier von einem Silo- oder einem Biobetrieb stammt, wann die Kuh zum letzten Mal gekalbt hat und von welchem Stier der Samen kommt. «Der Verkäufer ist dafür verantwortlich, dass die Tiergeschichte in Ordnung ist», steht auf dem Auktionsformular. Eine gute Kuh zeichnet sich laut Wyss durch «ein sauberes Fundament, Langlebigkeit und einwandfreie Milch» aus.
«Ich muss aufpassen, dass mir nicht die Tränen kommen»
Der Abschied vom Gantwesen fällt dem Luzerner nicht leicht. Emotionen kommen hoch. «Ich muss aufpassen, dass mir nicht die Tränen kommen», sagt er. In den vergangenen Tagen hat er Dutzende von Gruss-, Glückwunsch- und Dankeskarten erhalten. Der Zuspruch hat ihn sehr gerührt. In Zukunft will er mehr Zeit mit seiner Familie verbringen und die Grosskinder hüten. «Ich habe eine grossartige Frau und eine tolle Familie. Ohne sie hätte ich die letzten 60 Jahre nicht auf diese Weise bewältigt», betont er und ergänzt: «Meine Charaktereigenschaften habe ich von meinem Vater. Ich trete als Gantrufer bescheiden und dankbar ab.»
Weiterführende Infos zum Gantrufer Alois Wyss finden Sie online unter www.frutiglaender.ch/ web-links-html