Probleme um Wolf, Wild und Wald
28.01.2022 Natur, AnalyseEigentlich könnte es ganz einfach sein: Der Wolf, der sich in der Schweiz wieder angesiedelt hat, hält das Schalenwild in Schach, sodass der Wald nicht unter übermässigem Verbiss leidet. Doch statt Rothirsche zu jagen, fressen Wölfe auch gern Schafe und Ziegen, während sich Hirsche ...
Eigentlich könnte es ganz einfach sein: Der Wolf, der sich in der Schweiz wieder angesiedelt hat, hält das Schalenwild in Schach, sodass der Wald nicht unter übermässigem Verbiss leidet. Doch statt Rothirsche zu jagen, fressen Wölfe auch gern Schafe und Ziegen, während sich Hirsche und Rehe an den Jungbäumen gütlich tun. Die Folge: Der Mensch muss an allen Ecken und Enden in die Natur eingreifen – und Probleme bekämpfen, die er zum Teil selbst geschaffen hat.
Wer einmal eine TV-Dokumentation über Wölfe gesehen hat, begreift schnell, was diese Tiere ausmacht: Sie sind enorm anpassungsfähig und überleben in den unterschiedlichsten Regionen der Erde. Am Polarkreis findet man sie ebenso wie in Wüstengegenden, und so vielfältig wie ihr Lebensraum ist auch ihre Nahrung. Im hohen Norden jagen sie Elche und Rentiere, an den Küsten fischen sie Lachs und knacken Krebse. Wölfe reagieren ausgesprochen flexibel auf ihre Umwelt und stellen sich schnell auf das jeweilige Nahrungsangebot ein. Wenn es sein muss, können sie auch mal ein paar Wochen lang von Mäusen leben.
Was in freier Wildbahn ein Erfolgsrezept ist, wird in besiedelten Lebensräumen zum Problem. Als intelligente Jäger wenden Wölfe nur so viel Energie auf, wie sie müssen. Haben sie einmal verstanden, dass Schafe leichter zu kriegen sind als Hirsche, passen sie ihr Beuteschema entsprechend an. Und wenn Wölfe die Erfahrung machen, dass Menschen keine Gefahr darstellen, pflegen sie mit den Zweibeinern einen entspannten Umgang: Seit vergangenem Herbst lebt ein Wolfsrudel an der Stadtgrenze Berlins. Die Tiere haben rasch begriffen, dass sie dort nicht aktiv gejagt werden. Unberechenbar bleibt für sie lediglich der Verkehr: Ab und zu stirbt ein Wolf auf der Autobahn.
Selbst Kälber werden gerissen
Die Annäherung des Raubtiers an den Menschen sorgt auch in der Schweiz regelmässig für Diskussionen. Werden irgendwo Nutztiere gerissen oder taucht ein Wolf in Siedlungsnähe auf, steht alsbald die entscheidende Frage im Raum: Gehört der Wolf hierher?
Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht. Ähnlich wie Menschen siedeln sich Wölfe überall dort an, wo sie überleben können. Und weil die Tiere ausgesprochen mobil sind, erkunden sie auch das nahe Umfeld von Städten und Gemeinden. Dass es dort, vor allem mit Nutztierhaltern, zu Konflikten kommt, liegt auf der Hand. Hunderte Schafe und Ziegen werden landesweit jedes Jahr gerissen, in seltenen Fällen auch Grossvieh, meist in Gestalt junger Kälber. Ein Schutz dieser Tiere ist nur begrenzt möglich. Einerseits werden die Tiere häufig in abgelegenen Gegenden gehalten, sodass eine Bewachung mit grossem Aufwand verbunden wäre. Andererseits lernen Wölfe schnell und stellen sich auf die jeweiligen Schutzmassnahmen ein. Eine hundertprozentige Sicherheit vor Wolfsrissen wird es nie geben. Die eigentliche Frage ist also, inwieweit die Gesellschaft bereit ist, solche Konflikte und die daraus entstehenden Schäden zu tolerieren.
Abstimmen «über den Wolf»
Die Debatte darüber nimmt – je nach Region – teils absurde Züge an. Im letzten November fand im Kanton Wallis eine Abstimmung über den Wolf statt. «Der Staat erlässt Vorschriften zum Schutz vor Grossraubtieren und zur Beschränkung und Regulierung des Bestands» – dieser Satz sollte in die Kantonsverfassung aufgenommen werden. Und weiter: «Die Förderung des Grossraubtierbestands ist verboten.» 62,7 Prozent der Stimmbevölkerung stimmten mit Ja, im Oberwallis waren es 80,8 Prozent.
Doch die Auswirkungen des Votums dürften Bescheiden sein. Das Management und die Regulation von Grossraubtieren liegen in der Kompetenz des Bundes, die Walliser Regierung hat darauf also nur sehr begrenzten Einfluss. Insofern ist das Abstimmungsergebnis wohl vor allem als Signal zu werten, als Indikator für die öffentliche Meinung im Wallis.
Grössere Auswirkungen hatte die Abstimmung über das revidierte Jagdgesetz am 27. September 2020. Die Neufassung hätte es den Kantonen erlaubt, die Wolfbestände zu regulieren, bevor die Raubtiere Schafe und Ziegen angreifen. Damit sollte auch sichergestellt werden, dass die Scheu der Wölfe vor Menschen und Siedlungen nicht verloren geht. Doch dazu kam es vorerst nicht: Das Jagdgesetz wurde an der Urne mit 51,9 Prozent Nein-Stimmen knapp abgelehnt, im Kanton Bern sogar mit 53 Prozent. Vor allem das präventive Abschiessen von Wölfen kam bei vielen Stimmbürgern nicht gut an. Hauptsächlich in den Städten, wo Wolfssichtungen eher unwahrscheinlich sind, hatte die Bevölkerung ein Herz für die Raubtiere.
Auf der Seite der Sieger standen damals mehrere Umweltverbände, Grüne und SP. Im Abstimmungskampf hatten sie beteuert, ihnen sei durchaus bewusst, dass die Ansiedlung des Wolfs auch Probleme bereite. Einer «vernünftigen» Lösung ständen sie deshalb nicht im Wege – aber das Jagdgesetz dürfe nicht zum «Abschussgesetz» verkommen.
Ein Kompromiss zeichnet sich ab
Seit dem Nein vom Herbst 2020 hat sich einiges getan. Verschiedene Organisationen trafen sich mehrmals zu Gesprächen, unter ihnen die Gruppe Wolf Schweiz, der Schweizer Bauernverband, der Schweizerische Alpwirtschaftliche Verband, die Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete, der Schweizerische Forstverein, Jagd-Schweiz, BirdLife Schweiz, Pro Natura und WWF Schweiz. In einem Kompromiss sprechen sich alle beteiligten Organisationen für eine baldige, schlanke Revision des Jagdgesetzes aus, welche die berechtigten Anliegen aller Seiten aufnimmt. Konkret soll der Umgang mit dem Wolf flexibler, der Wolfsbestand aber gleichzeitig gesichert werden – inklusive weitere Ausbreitung der Raubtiere. Eine Stärkung des Herdenschutzes floss in die Beratungen ebenso ein wie eine bessere Berücksichtigung der natürlichen Waldverjüngung.
Auch politisch ist die Revision bereits auf den Weg gebracht. Die zuständige Kommission des Nationalrates hat kürzlich entschieden, die Revision des Jagdgesetzes rasch an die Hand zu nehmen und eine Parlamentarische Initiative ihrer ständerätlichen Schwesterkommission überwiesen. Damit soll auch die Grundlage geschaffen werden für eine präventive Regulierung der Wolfsbestände. Die Regulierung von Wölfen soll allerdings erst nach Zustimmung des Bundes möglich sein, wenn zuvor der zumutbare Herdenschutz ergriffen wurde.
Reagiert hat schliesslich auch der Bundesrat und einige Sofortmassnahmen zugunsten der Landwirtschaft angeregt. Er schlägt einerseits vor, bei den Sömmerungsbeiträgen keine Kürzungen vorzunehmen, wenn es aufgrund von Wolfsangriffen zu vorzeitigen Abalpungen kommt – eine wichtige Massnahme, damit die anstehenden Kosten der Sömmerungsbetriebe gedeckt werden können, etwa die Löhne der Älpler oder das Ersatzfutter. Zudem möchte der Bund die Sömmerungsbeiträge für die Schafalpung mit ständiger Behirtung und Herdenschutz erhöhen.
Wildverbiss macht Wäldern zu schaffen
Während man einerseits versucht, den Wolf von den Herden fernzuhalten, würde er andernorts durchaus gebraucht – um das Schalenwild zu dezimieren. Rehe, Hirsche und Gämsen richten in vielen Wäldern erhebliche Verbissschäden an, unter anderem in Graubünden, aber auch im Kanton Bern. Wie das Wildschadengutachten 2021 darlegt, ist der Wildtiereinfluss auf 12 Prozent der Berner Waldfläche so gross, dass die natürlich vorkommenden Baumarten nicht mehr ausreichend nachwachsen können. Bei weiteren 26 Prozent wird die Situation vom Kanton als kritisch beurteilt. Betroffen sind vor allem die östlichen Teile des Kantons, also etwa die Lütschinentäler, die Region Beatenberg und Teile des Emmentals. Auch in kleineren Gebieten östlich von Biel gibt es zu viel Wild. Vor allem der Rothirsch hat stark zugelegt. Im Jahr betrug der Bestand im Kanton Bern 1365 Hirsche, 2020 waren es bereits doppelt so viele Tiere. In den Emmentaler Alpen ist die Population so zahlreich, dass die Hirsche den Bauern die Alpweiden kahlfressen.
Doch auch die Bäume leiden. In tieferen Lagen fehlen Laubbäume wie der Bergahorn oder die Eiche für die Verjüngung des Waldes, in höheren Regionen fehlt die Tanne. Deren junge Triebe sind für den Rothirsch ein Leckerbissen, den er nicht stehen lässt.
Die schon seit mehreren Jahren anhaltende Situation wirkt sich negativ auf die Biodiversität aus. Verschwindet etwa die Eiche, verschwinden auch ihre Bewohner, etwa der Mittelspecht und bestimmte Insektenarten. Auch der Schutz vor Naturgefahren leidet unter der Situation, die nötige Anpassung an den Klimawandel wird verlangsamt, weil sich passende Gastbaumarten gar nicht erst ansiedeln können.
Der Wolf, auf dessen Speiseplan das Schalenwild eigentlich ganz oben steht, könnte hier regulierend wirken und damit zur Waldverjüngung beitragen, ebenso der Luchs. Doch werden die Beutegreifer ihrer Aufgabe (noch) nicht gerecht. Einerseits sind gerade die Wölfe dafür noch zu wenig verbreitet, andererseits sind sie je nach Region auch gar nicht erwünscht, weil sie Mensch und Nutztier zu nahekämen. So lästig der Hirsch für manche Bauern ist – den Wolf wünscht sich dann doch niemand.
Flinte statt Raubtier
Stattdessen hat das Jagdinspektorat die Jagdplanung angepasst. Schon im vergangenen Jahr konnten mit der sogenannten Donnerstagjagd und mit Nach- und Sonderjagden im Wildraum 11 (Region Beatenberg, Habkern) genügend Tiere geschossen werden, um den Wildbestand auf ein verträgliches Mass zu bringen, so die Wirtschafts-, Energie- und Umweltdirektion. In den Wildräumen 16 und 17 (östliches Berner Oberland) nahm die Wildhut zusätzliche Abschüsse vor, um den Bestand zu regulieren.
Dem Verband der Berner Waldbesitzer genügen diese Massnahmen nicht. Es brauche «dringend eine grundlegende Überarbeitung der Jagdplanung und der Jagdvorschriften», schrieb Verbandspräsident Erich von Siebenthal in einer Stellungnahme zum Wildschadengutachten 2021. «Das Jagdsystem muss so gestaltet werden, dass die überhöhten Wildbestände auf ein waldverträgliches Mass reduziert werden können.» Reh, Hirsch und Gämse könnten sonst die Baumartenzusammensetzung von ganzen Waldgebieten negativ beeinflussen.
Die Schicksale gleichen sich
Gerade um den Hirsch tobt mancherorts ein ähnlich erbitterter Streit wie um den Wolf. Auch das majestätische Rotwild war in der Schweiz einst ausgerottet worden und hat sich, politisch durchaus gewollt, erst in den letzten Jahrzehnten wieder angesiedelt. Nun ist die Frage, wie man mit den grossen Pflanzenfressern umgehen soll. Manche behaupten, die Hirsche hielten uns den Spiegel vor, ihre Verbissschäden zeigten nur, wie verfehlt und viel zu dicht manche Wälder angelegt seien. Andere fordern eine radikale Dezimierung des Hirschs – auch in den Jagdbanngebieten. Zu negativ seien sonst die Folgen für den Wald. Und natürlich geht es auch hier ums Geld – zum Beispiel um jene Kosten, die ein angemessener Hirschschutz in Jungwäldern kosten würde.
So verbindet die beiden natürlichen Feinde Wolf und Hirsch mehr, als man auf den ersten Blick ahnt. Beide wurden vom Menschen einst ausgerottet und nach langer Abwesenheit wieder willkommen geheissen. Doch kaum tun die Tiere, was ihnen eigen ist, würde man sie vielerorts am liebsten wieder loswerden. Egal, ob Wolf oder Wild – irgendwie scheinen die grossen Säugetiere nicht so recht in die Landschaft zu passen. So jedenfalls sieht es ein anderes Säugetier, das inzwischen sämtliche Landschaften raumgreifend erobert und verändert hat: der Mensch.