Wie aus einem Umweltprozess ein Unfallprozess wurde

  18.01.2022 Adelboden, Gesellschaft

MEDIEN «Framing» nennt man den Vorgang, bei dem ein Thema ganz bewusst in einen bestimmten Kontext gestellt wird. Besonders häufig findet sich das Phänomen in der Politik, aber auch Presse und Rundfunk sind anfällig dafür. Was damit gemeint ist, liess sich am Wochenende beobachten – an einem drei Jahre zurückliegenden Unglück in Nordschweden.

MARK POLLMEIER
Am Anfang steht ein Beitrag von Tele-Züri. Auf der Website des regionalen Privatsenders erscheint am frühen Freitagabend folgende Meldung: «Urteil für tödliche Lastwagenkollision in Schweden». Worum es (scheinbar) geht, wird in den folgenden Sätzen ausgeführt: «Im Januar 2019 starben 6 Schweizer in Schweden bei einer Kollision eines 90-Tonnen-Lastwagens mit einem Kleinbus. Fast genau drei Jahre später kommt das Urteil: Der Lastwagen war illegal auf der Strasse unterwegs. Dies entschied ein schwedisches Gericht.» Im Film kommen unter anderem ältere Aufnahmen des Adelbodner Dorfplatzes vor sowie ein früheres Statement von Obmann Markus Gempeler.

Viele Stationen, ein Thema
TeleZüri gehört zu einer Senderfamilie, die vom Medienunternehmen CH Media gesteuert wird. Weitere «Familienmitglieder» sind zum Beispiel TeleBärn und TeleM1, der die Kantone Solothurn und Aargau bespielt. Es ist also kein Zufall, dass auch diese Sender am Freitagabend über das schwedische Gerichtsurteil berichten. Die Texte und Filmbeiträge sind leicht unterschiedlich. Aber auch TeleBärn nimmt Bezug auf den Verkehrsunfall vor drei Jahren. «Nach tödlichem Unfall von Adelbodnern: Schwedisches Gericht urteilt», lautet dort der Titel.

In allen Filmbeiträgen der regionalen TV-Stationen kommt mit identischen Aussagen Tobias Keller zu Wort. Keller ist Journalist und Schweden-Kenner – und war früher unter anderem für Radio 24 tätig. Auch dieser Privatsender gehört zur CH-Media-Gruppe. Gut möglich, dass Keller überhaupt erst den Anstoss für die aktuelle Berichterstattung gab.

Von «Blick» über SDA bis ins Oberland
Wenn mehrere Fernsehsender ein schlagzeilenträchtiges Thema bearbeiten, ist in der Regel auch der «Blick» nicht weit. Am Freitagabend, gut zwei Stunden nach den TV-Stationen, geht auf der «Blick»-Website folgende Schlagzeile online: «Unfall mit sechs jungen Schweizern in Schweden: Lastwagen war laut Gerichtsurteil illegal unterwegs». Kurz nach 22 Uhr wird der Artikel noch mit Archivmaterial angereichert.

Spätestens jetzt ist die Nachricht vom schwedischen Unfallurteil in der Welt. Die Presseagentur Keystone-SDA wird auf das Thema aufmerksam, am Sonntag berichten mehrere Medien über das Geschehen. Bei Tamedia setzt sich die Formulierung «Unfalldrama in Nordschweden» durch. «Der Tod der sechs Schweizer war wohl vermeidbar», heisst es übereinstimmend bei «20 Minuten» «Tages-Anzeiger», «Bund» und «Berner Oberländer». Was in Zürich seinen Anfang nahm, lässt sich knapp zwei Tage später in der ganzen Schweiz nachlesen.

Eigentlich ein Umweltverfahren
Wer die Schlagzeilen und Einleitungstexte all dieser Meldungen vergleicht, muss den Eindruck gewinnen, in Schweden habe sich ein Gericht mit dem tragischen Verkehrsunfall vom Januar 2019 befasst. Bloss: Der spielte in dem Verfahren überhaupt keine Rolle.

Bereits im Juni 2018 – mithin vor dem Unglück – hatte die schwedische Umweltschutzbehörde beim Gericht den Antrag gestellt, dem Bergbaukonzern Kaunis Iron die Abbaugenehmigung zu entziehen. Grund dafür waren Befürchtungen, dass nahe gelegene Wasserläufe, Feuchtgebiete und das Grundwasser durch den Abbau von Eisenerz Schaden nehmen könnten – unter anderem durch Staubemissionen, die der Erztransport verursacht.

Verstösse nicht so schwerwiegend
Das mit dem Fall befasste Land- und Umweltgericht in Umeå folgte dem Behördenantrag nicht. Mit seinem Urteil vom vergangenen Donnerstag widerrief es die Betriebsgenehmigung zum Abbau von Eisenerz nur teilweise: Die jährliche Produktion muss nun von 20 Millionen Tonnen Erz auf 7 Millionen pro Jahr reduziert werden – ungefähr so viel, wie Kaunis Iron jährlich abbaut Zwar bemängelte das Gericht auch, der Transport von Eisenerz per Lastwagen (statt per Bahn) sei eine Lösung, die nicht von der Betriebsgenehmigung abgedeckt sei. Allerdings betrachteten die Richter diesen Verstoss und seine ökologische Folgen als nicht so schwerwiegend wie die Umweltbehörde. Beim Unternehmen Kaunis Iron selbst, aber auch in der nahen Gemeinde Pajala nahm man das Urteil mit Erleichterung auf. Die Erzförderstätte ist in der strukturschwachen Gegend ein wichtiger Arbeitgeber.

Hätte, wäre, würde ...
Was hat all das nun mit dem Vorfall vom Januar 2019 zu tun? In den Beiträgen der anfangs genannten Regionalsender interpretiert Journalist Tobias Keller das Gerichtsurteil so: «Wenn sich Kaunis Iron an die gültige Umweltbewilligung gehalten hätte, dann wären die Lastwagen nicht auf der Strasse gefahren, dann wäre es nicht zu dem Unfall gekommen, und dann würden die sechs Schweizer wahrscheinlich heute noch leben.» Dieser Satz ist die einzige Verbindung zum viel zitierten Unglück.

«Urteil für tödliche Lastwagenkollision in Schweden» – ob ein solcher Titel in diesem Zusammenhang gerechtfertigt ist, mag jeder selbst beurteilen.


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