Ein Grossteil des Pflegepersonals ist müde
18.02.2022 Coronavirus, GesundheitSeit knapp zwei Jahren sind ÄrztInnen und Pflegepersonal stark gefordert und leisten teilweise massive Überstunden. Wegen der starken Belastung und den teils unattraktiven Arbeits bedingungen haben sich viele bereits aus ihrem Beruf verabschiedet. Der «Frutigländer» hat in ...
Seit knapp zwei Jahren sind ÄrztInnen und Pflegepersonal stark gefordert und leisten teilweise massive Überstunden. Wegen der starken Belastung und den teils unattraktiven Arbeits bedingungen haben sich viele bereits aus ihrem Beruf verabschiedet. Der «Frutigländer» hat in verschiedenen Bereichen des Gesundheitswesens nachgefragt, welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Personalsituation hatte.
KATHARINA WITTWER
fmi-Spital: Externe Unterstützung
Die Zahl der geleisteten Überstunden von Pflegepersonal und Ärzten im fmi Spital Frutigen seit Ausbruch der Corona-Pandemie lässt sich nicht so leicht ermitteln. Fest steht: Es sind einige. Bis Anfang Februar wurden hier 116 Covid-PatientInnen behandelt. «Nicht primär die Betreuung der an Covid-19 Erkrankten macht die Personalplanung sehr anspruchsvoll, sondern die kurzfristige Isolation und Quarantäne. Das verlangt eine hohe Flexibilität von allen Mitarbeitenden», informiert die Leiterin Kommunikation, Gabriela Vrecko. Bei Bedarf unterstützen sich die Spitäler Interlaken und Frutigen gegenseitig, indem einige Angestellte an beiden Standorten eingesetzt wurden.
Spitzenauslastungen, wie sie im Winter wegen Schneesportunfällen immer wieder vorkommen, können mit Teilzeitmitarbeitenden bewältigt werden. Seit Januar 2022 unterstützen je nach Bedarf an einem der beiden Standorte fünf Spitalsoldaten der Armee und zwei Zivildienstleistende (Zivis) das Personal.
In Frutigen konnte das Operationsprogramm zum grössten Teil aufrechterhalten werden – mit Ausnahme der Lockdown-Phase im Frühling und Vorsommer 2020. Damals mussten auf Anordnung des Bundesrats alle nicht dringenden Eingriffe verschoben werden.
Da Frutigen keine Intensivstation betreibt, werden PatientInnen nach Interlaken, ins Berner Inselspital und andere Spitalstandorte verlegt oder die Operation wird gleich dort durchgeführt.
«Der Schutz aller hat oberste Priorität», so Gabriela Vrecko. «Auch wenn Bundesrat oder Kanton die Vorschriftsmassnahmen für Spitäler bald lockern, werden wir bei der Anpassung des internen Schutzkonzepts vorsichtig vorgehen.» Trotz der schwierigen Situation ist in den fmi-Spitälern die Personalfluktuation verglichen mit anderen Häusern tief geblieben. Für 2022 sind auffällig viele Urlaubsgesuche eingegangen, die man so weit wie möglich bewilligen will.
Anspruchsvolle Planung
«Die Lage hat sich bei uns erst in den letzten Wochen so richtig zugespitzt», seufzt Susanna Zurbrügg, die Geschäftsleiterin der Spitex Niesen. «Zum Glück betrifft es nicht alle unsere Stützpunkte. So können wir uns gegenseitig aushelfen», fügt sie hinzu. Wie überall war und ist die Einsatzplanung anspruchsvoll. Wegen Krankheit, einem positiven Testergebnis, Isolation oder Quarantäne der Angestellten oder ihren Familienmitgliedern fallen viele kurzfristig aus. Der Pflegeberuf verlangt ihnen körperlich und physisch einiges ab. Häufen sich die Überstunden, kommt es unter Umständen zu chronischer Übermüdung. Wer zudem selbst gesundheitliche Probleme oder ein belastetes Umfeld hat, bei dem steigt das Krankheits- und Unfallrisiko.
Corona hat auch innerhalb der Teams zu Unstimmigkeiten geführt. «Auf der einen Seite waren die Impfbefürworter-Innen, auf der anderen die Impfgegner-Innen, die teilweise sogar das Testen ablehnten», berichtet Susanna Zurbrügg. «Leider ist es mir nicht immer gelungen, zur Zufriedenheit aller zu vermitteln», gibt sie zu. «Wir mussten auch Kündigungen hinnehmen.» Um die Belastungsspitze zu brechen, konnte die Spitex Niesen als zusätzliche Massnahme während einiger Wochen eine freischaffende Pflegefachfrau anstellen.
Im Dezember suchte Susanna Zurbrügg mit den Angestellten individuelle Lösungen. «Teilweise haben wir Überstunden ausbezahlt, doch das soll nicht die Regel sein, denn Geld hat keinen Erholungswert. Einige wünschten im Anschluss an 14 Tagen Ferien weitere zwei Wochen Kompensation. Das wird nun im Ferienplan berücksichtigt in der Hoffnung, dass wir diese Wünsche berücksichtigen können.»
Unterschiedliche Situation in Alters- und Pflegeheimen
In den Alters- und Pflegeheimen hat sich die Corona-Pandemie unterschiedlich ausgewirkt. «Unter Personalengpässen litten wir schon vor der Pandemie», sagt Beat Santschi, Leiter der Stiftung Lohner in Adelboden. «Corona hat unsere Personalsituation nicht deutlich verschlechtert.» Bei der Einsatzplanung versuche man, die aufgehäuften Überstunden so rasch wie möglich zu kompensieren. «Ist das nicht möglich, wird – mit Einverständnis der Arbeitnehmenden – auch mal ausbezahlt.»
Pflegekräfte gesucht
BewohnerInnen und Angestellte der Pension Adelmatt in Aeschi erlebten eine schlimme erste Welle. «Wir hatten eine Zeitlang kaum mehr diplomiertes Personal zur Verfügung. Zur Entlastung halfen uns Zivis und temporäre Kräfte aus», informiert Antonia Berchtold. Die Leiterin Betreuung und Pflege weiss aus Erfahrung, dass Arbeitsvermittlungsbüros kaum mehr Leute aus Pflegeberufen vermitteln können, da diese nun fehlen.
In den Häusern der Jetzt Frutigland AG in Reichenbach und Frutigen ist die Überzeitsituation sehr personenabhängig und das Arbeitspensum innerhalb der Teams ganz unterschiedlich. «Solange Leute ausfallen, kann niemand kompensieren», beschreibt Geschäftsführerin Franziska Schranz die Situation. «Auch wir versuchen, zusätzliches Personal anzustellen. Bekanntlich ist das alles andere als einfach.»
Was sagen die Angestellten?
Erika Zürcher* lernte in jungen Jahren Pflegeassistentin. Die Bäuerin arbeitet seit über 25 Jahren Teilzeit in einem Alters- und Pflegeheim. Sie ist sehr flexibel und auch bereit, bei Bedarf eine Woche lang 100 Prozent zu arbeiten. «Bei uns legte man grossen Wert darauf, Überstunden rasch abzubauen. Manche Zimmer waren nach Todesfällen einige Wochen nicht belegt, das hat uns sehr entlastet.» Die 60-Jährige schätzt sich als sehr belastbar ein. Man müsse auch akzeptieren, dass die Schmerzgrenze individuell ist.
Die gleichaltrige Silvia Hufschmid* arbeitet ebenfalls in der Alterspflege, jedoch in einem Vollpensum. Weder sie noch ihre Arbeitskolleginnen haben viele Überstunden. Ihr taten vor allem die BewohnerInnen leid, die wegen des zeitweiligen Besuchsverbots psychisch stark gelitten haben.
Margrit Berger* ist ausgebildete Intensiv-Pflegefachfrau. Die Berner Oberländerin ist auch im Aufwachraum und auf dem Notfall einsetzbar. Seit zwölf Jahren ist sie selbstständig und bietet ihre Arbeitskraft temporär an. Ihr Einsatzradius erstreckt sich von Freiburg über Biel bis nach Zürich. Leistete sie früher eher kurze Ferienablösungen, arbeitet sie seit Ausbruch der Corona-Pandemie bis zu einem Jahr im gleichen Spital. Weil sie sämtliche Schichten abdeckt, kann sie sich vor Anfragen kaum retten.
«Auf der IPS ist prinzipiell eine 3:1-Betreuung vorgesehen, auf drei Patienten soll also eine diplomierte Pflegefachkraft kommen. Weil im Dreischicht-Betrieb gearbeitet wird, braucht es natürlich entsprechend mehr Personal. Weil in den letzten Monaten viele ihrem Beruf den Rücken gekehrt haben, ist der Betreuungsschlüssel aber teilweise unter diesen 3:1-Wert gesunken.» In der Praxis kann das rasch zu Engpässen führen. Um einen übergewichtigen Corona-Patienten vom Rücken auf den Bauch oder in die andere Richtung zu drehen, sind vier Pflegende plus ein Arzt erforderlich.
Fast all ihre festangestellten ArbeitskollegInnen hätten in den letzten Monaten zwischen 60 und 200 Überstunden aufgebaut. Dass dieser Zustand auf die Dauer nicht funktionieren kann, liege auf der Hand.
«Leider hat der Pflegeberuf in den letzten Jahren an Attraktivität verloren. Meiner Meinung nach haben Akademisierung und Verlängerung der Ausbildung mehr geschadet als genützt. Begreiflicherweise wird manchmal ein Medizinstudium vorgezogen, was am Schluss finanziell interessanter ist.» Margrit Berger war einst stolz, in einem Spital arbeiten zu dürfen. Erzählt sie das heute jungen Frauen, wird sie gar ausgelacht.
So bleibt vorerst nur die Hoffnung, dass sich die Lage in absehbarer Zeit normalisiert und Erholungszeiten möglich werden.
* Namen der Redaktion bekannt