Mehr IPS-Betten für die nächste Pandemie?
01.02.2022 Coronavirus, Gesundheit«Mehr IPS-Betten!» Kaum eine Corona-Debatte der letzten Monate kam ohne diese Forderung aus. Doch dass die Intensivstationen ausgebaut werden, ist unwahrscheinlich – nicht nur aus finanziellen Gründen.
MARK POLLMEIER
Die Spitäler dürfen nicht überlastet werden, ...
«Mehr IPS-Betten!» Kaum eine Corona-Debatte der letzten Monate kam ohne diese Forderung aus. Doch dass die Intensivstationen ausgebaut werden, ist unwahrscheinlich – nicht nur aus finanziellen Gründen.
MARK POLLMEIER
Die Spitäler dürfen nicht überlastet werden, das war in den letzten Monaten die Standardbegründung für viele Corona-Massnahmen. Im Fokus standen dabei die Intensivpflegeplätze: Ihr Auslastungsgrad wurde zum Gradmesser für den Stand der Pandemie – und zur Steilvorlage all jener, die mit den verschärften Massnahmen nicht einverstanden waren. Es sei ein Skandal, dass es in der Schweiz nach zwei Jahren Corona-Krise noch immer zu wenig IPS-Betten gebe, lautete ein oft erhobener Vorwurf. Denn würde die Schweiz über mehr solcher Betten verfügen, könnten die Spitäler auch mehr Covid-Patienten versorgen. Flächendeckende Corona-Massnahmen seien dann nicht mehr nötig.
Doch was sich in einer Talkshow leicht dahinsagt, ist in der Realität nicht ganz so simpel. Es fängt schon damit an, dass es nicht um die Betten als solche geht. In den Spitälern die «Möblierung» aufzustocken, wäre ja noch machbar. Sobald aber ein neues IPS-Bett dasteht, braucht es auch Personal, das dieses Bett betreut.
Der Nachwuchs fehlt
Pro Platz auf der Intensivstation sind mehrere Fachkräfte nötig, Ärzte, Pflegende, Therapeuten. Manche Statistiken nennen 2,5 Vollzeitstellen pro Bett, andere Berechnungen gehen von 4,5 aus. Doch genau diese Fachkräfte fehlen – was dazu führt, dass von den aktuell vorhandenen zertifizierten Intensivbetten nie alle belegt werden können. Das war schon vor der Corona-Krise so, aber in den letzten beiden Jahren hat sich der Personalmangel noch verschärft. Schätzungen zufolge haben 10 bis 15 Prozent der Intensivpflegefachkräfe seit Beginn der Pandemie ihre Stelle gekündigt, weitere haben ihre Pensen reduziert oder sind dauerhaft krankgeschrieben.
Eine Auslastung der Intensivstationen von 75 Prozent gilt als idealer Wert. Mit dieser Belegung können Spitzen – etwa nach mehreren schweren Unfällen – aufgefangen werden, ohne dass es zu Engpässen kommt. Während der Corona-Krise war die Auslastung aber höher, die Behandlungsdauer länger und entsprechend auch die Beanspruchung des Personals deutlich grösser. Noch nie hat eine Krankheit schlagartig derart viele Ressourcen gebunden.
Viele Pflegekräfte haben deswegen das Handtuch geworfen, und ausreichender Nachwuchs ist nicht in Sicht. Gerade in der Intensivpflege sind die Ausbildungszahlen rückläufig. Die Arbeit auf der IPS gilt als anspruchsvoll und kräftezehrend, schon die häufigen Nachtschichten und Wochenendeinsätze sind nicht sonderlich beliebt. Überdies war die starke Belastung des Personals während der Corona-Krise keine gute Werbung für dieses Berufsfeld. Es gibt – auch im Gesundheitswesen – einfachere Möglichkeiten, Geld zu verdienen.
Per Crashkurs auf die IPS?
Auch in der Personalfrage herrscht an guten Tipps und Ideen freilich kein Mangel. Wenn es zu wenige Fachkräfte gebe, dann müsse man eben Leute aus der Pension zurückholen oder Medizinstudenten und «einfachen» Pflegekräften einen Schnellkurs verpassen, fordern manche. Motto: Patienten zu wenden und zu waschen, könne ja nicht so schwierig sein.
Wer solche Vorschläge macht, verkennt, wie anspruchsvoll die intensivmedizinische Betreuung ist. Selbst wenn es «nur» ums Drehen und Waschen geht, braucht es solide Fachkenntnisse. Intensivpatienten, zumal schwer an Covid Erkrankte, sind häufig sediert und intubiert. Verrutscht bei der Pflege ein Schlauch, kann das fatale Folgen haben.
Unterschätzt wird häufig auch, wie schnell sich der Zustand von IPS-Patienten ändern kann. Von einer halbwegs stabilen Lage zum Lungenkollaps dauert es manchmal nur Minuten. Soll der Patient gerettet werden, ist dann schnelles und sicheres Handeln gefordert. Via Crashkurs angelernte Kräfte wären mit einer solchen Situation überfordert.
Ein Bett für 1 Million Franken
Dass es neben Wissen auch Routine braucht, ist einer der Gründe, warum man Intensivpflegekräfte schlecht «auf Vorrat» ausbilden kann. In Nichtpandemiezeiten würden diese Fachkräfte nicht gebraucht, sodass man sie von der IPS abziehen und anderweitig einsetzen müsste. Wenn dann eine Pandemie ausbräche, hätten die Pflegerinnen und Pfleger mitunter zu wenig Praxiserfahrung, um kurzfristig zurückgeholt werden zu können. Auch das Verschieben von Personal innerhalb der Spitäler ist deshalb nur bedingt möglich. In einer Fabrik kann man auch nicht einfach Buchhalter gegen Mechaniker austauschen und umgekehrt. In einem Spital mögen die Unterschiede zwischen den Abteilungen nicht ganz so ausgeprägt sein – aber es gibt sie.
Wie immer geht es natürlich auch ums Geld. Intensivpflege ist teuer, inklusive Reinigungspersonal und Administration kostet ein IPS-Bett gut 1 Million Franken pro Jahr. Und auch wenn viele das nicht gutheissen: Das Gesundheitswesen ist ein Business; Spitäler sind Unternehmen, die wirtschaftlich arbeiten müssen. Einfach gesagt: Millionenteure Betten, die leer stehen, kann sich in diesem System niemand leisten. Die Intensivpflegestationen sind konzipiert für temporäre Belegungsschwankungen von 10 bis 20 Prozent – nicht für Ausschläge von 40 oder 50 Prozent, wie sie während einer Pandemie vorkommen.
Die «Vorhalteleistungen» ausbauen
Die Frage ist, wie es nun weitergeht. Fachleute sind sich einig, dass Corona nicht die letzte Seuche war, die in unserer globalisierten Welt auftreten wird. Lässt man das Spitalwesen, wie es ist, wird es auch beim nächsten Mal die hinlänglich bekannten Massnahmen geben müssen – von der Maskenpflicht über Homeoffice und vorgezogene Schulferien bis hin zu temporären Shutdowns. Die Alternative wäre, die IPS-Kapazitäten auszubauen, sodass sie im Fall der Fälle mehr Pandemiepatienten aufnehmen könnten, ohne dass man andere Behandlungen verschieben müsste.
Tatsächlich findet sich in der neusten Version des Covid-19-Gesetzes ein entsprechender Abschnitt (Artikel 3, Absatz 4): «Zur Stärkung der durch die Covid- 19-Krise beanspruchten Gesundheitsversorgung finanzieren die Kantone die zur Abdeckung von Auslastungsspitzen nötigen Vorhalteleistungen.» Übersetzt heisst das: «Fürs nächste Mal müssen wir vorbereitet sein.»
Die Rechnung geht an die Kantone
Doch was sind die «nötigen Vorhalteleistungen», die das Parlament ins Gesetz geschrieben hat? Geht es dabei auch um die Intensivbetten, ums Personal? «Die Kantone definieren die nötigen Kapazitäten in Absprache mit dem Bund», heisst es dazu im Gesetz.
Der Bund ist dabei eindeutig in der besseren Position: Die Zuständigkeit für das Spitalwesen liegt bei den Kantonen. Sie müssten dementsprechend den Ausbau der IPS-Kapazitäten bezahlen – genau so steht es auch im Gesetz. Wie gross die Bereitschaft dazu ist, wird sich in den nächsten Monaten zeigen.
Zu wenig Personal, Kostendruck im Gesundheitswesen – unter diesen Rahmenbedingungen scheint es unwahrscheinlich, dass sich an der Situation der Intensivpflege viel ändert. Gut möglich, dass der politische Vorsorgewille schnell erlahmt, wenn die aktuelle Pandemie erst einmal abklingt und der Handlungsdruck fehlt.
Wurden während der Pandemie Intensivbetten abgebaut?
Ja und nein. In der ersten Hochphase der Pandemie im Frühjahr 2020 wurde die Zahl der Intensivpflegebetten kurzfristig auf über 1000 erhöht. Viele dieser Plätze waren jedoch improvisiert (sogenannte Ad-hoc-Betten) und für einen dauerhaften IPS-Betrieb nicht geeignet – allein schon, weil dafür das Personal gefehlt hätte. Sobald die Lage sich etwas beruhigt hatte, wurden die improvisierten Betten mangels Bedarf auch wieder abgebaut.
Die Gesamtzahl der «echten», also zertifizierten Intensivbetten ist dagegen nahezu konstant geblieben und liegt schweizweit bei ungefähr 870 – genau wie vor der Pandemie. Komplett nutzen lässt sich diese Kapazität meistens nicht: Das einsatzfähige Personal reicht für 750 bis 800 Betten.
POL