Die Energiewende ist eine riesige Herausforderung

  24.06.2022 Landwirtschaft, Natur

ENERGIE Der in Kandersteg wohnhafte Andreas Züttel und sein Team haben Berechnungen gemacht, welche Technik und welche finanziellen Mittel für die erfolgreiche Energiewende nötig sind. Die Studie des EPFL-Professors stösst auf grosses Interesse.

HANS RUDOLF SCHNEIDER
In den letzten Monaten war von einer drohenden Lücke bei der Stromversorgung zu lesen, zudem hat der Ukraine-Krieg die Versorgung mit respektive die Abhängigkeit von den Energieträgern Öl und Gas in den Fokus gerückt. Diese kurzfristigen Probleme müssen mit Blick in die weitere Zukunft gelöst werden. Es kommen noch andere Herausforderungen hinzu: Die Energiestrategie des Bundes sieht bis 2050 eine klimaneutrale Energieproduktion vor. Andreas Züttel erklärt die Resultate einer Studie (Zusammenfassung siehe Kasten), die er zusammen mit seinem Team des Energieforschungslabors der EPFL im Wallis verfasst hat.

Andreas Züttel, sehen Sie für die Schweiz ein Problem bei der Energieversorgung aufgrund des Ukraine-Konflikts?
Die Erdgasversorgung ist eine Herausforderung. Wenn kein russisches Gas mehr zur Verfügung steht, werden die Preise steigen und der Markt wird sich neu ordnen. Für den Ausbau der erneuerbaren Energie ist die Verknappung fossiler Energie ein Vorteil, weil sich die Preise annähern und man die Versorgungssicherheit stärker gewichtet.

Die Versorgung mit Strom soll in den nächsten Wintern in der Schweiz gefährdet sein. Können wir mögliche Rationierungen für Industrie oder Haushalte verhindern?
Man müsste rasch ein wasserstoffbetriebenes thermisches Kraftwerk bauen und den Wasserstoff übergangsweise zum Beispiel von der Lonza beziehen, bis genügend aus Photovoltaik und Elektrolyse bereitgestellt werden kann.

Aktuell werden 75 Prozent des gesamten Schweizer Energieverbrauchs durch fossile Energieträger gedeckt, 25 Prozent durch erneuerbare. Bei der Sparte Elektrizität stammen 75 Prozent aus erneuerbaren Quellen und derzeit noch 25 Prozent aus Atomkraftwerken, die jedoch schrittweise abgeschaltet werden. Tendenziell wird der Stromverbrauch steigen.

In Ihren Szenarien für eine Energiewende, also eine CO2-freie Energieproduktion, wird die möglichst vollständige Elektrifizierung von Industrie, Verkehr und Haushalten als effizienteste Lösung beurteilt. Ist das machbar?
Wir müssten die Wasserkraft gewaltig ausbauen und bis zu 400 Quadratkilometer Fotovoltaikanlagen bauen. Man könnte überall dort, wo sich die Gletscher stark zurückziehen, Dämme bauen und so das Wasser stauen und kontrolliert durch Turbinen abfliessen lassen. Damit könnte man das Problem mit den stark variierenden Abflüssen regeln und gleichzeitig zusätzlich Strom produzieren. Technisch ist das machbar, das würde aber unser Landschaftsbild verändern.

Allein der Ersatz der Kernkraftwerke würde pro Kopf 16 Quadratmeter Solarpanels und vier Kraftwerke wie das Grande Dixence im Wallis zur Speicherung für den Winter benötigen. Die komplette Energieversorgung auf Strom umzustellen, würde riesige Solaranlagen und weitere neun Staumauern erfordern. Das ist nicht realistisch …
Nein, aber ohne diese Speicherseen werden wir nur rund 50 Prozent des CO2-Ausstosses reduzieren können. Ohne Speicher oder mit zu wenig Speichern importieren wir also idealerweise Wasserstoff. Das passiert am besten aus Australien, weil dort Sommer ist, wenn wir Winter haben, und weil dort viel Platz mit hoher Sonnenintensität zur Verfügung steht, um Wasserstoff zu produzieren.

Die Energieproduktion ist ein Teil, die Lagerung ein anderer. Welches ist die grössere Hürde?
Die saisonale Speicherung ist technisch und wirtschaftlich viel anspruchsvoller als die Produktion, weil die Speicher pro Jahr nur einen Lade- / Entlade-Zyklus machen. Zudem sind günstige Speicher sehr gross. In einem Speichersee mit 500 m Höhendifferenz muss man für eine Kilowattstunde fast eine Tonne respektive einen Kubikmeter Wasser speichern. Mit Batterien sind es für 1 kWh zum Beispiel über 20 kg Blei, die dann auch noch 230 Franken kosten. Als Konsequenz kostet die kWh nach 56 Jahren Nutzung immer noch 5 Franken pro kWh – sofern die Batterie überhaupt so lange hält.

Sie sprechen es an: Die Kosten der Energiewende sind gewaltig. Wer kann diese Investitionen finanzieren?
Die Finanzierung grosser langfristiger Projekte erfordert spezielle Instrumente und zudem staatliche Absicherungen. Man muss sich an den grossen Wasserkraftwerken orientieren, die im letzten Jahrhundert gebaut wurden.

Das Fazit lautet also: Technisch machbar, gesellschaftlich, politisch und finanziell eine riesige Herausforderung?
Die Investitionen liegen in der Grössenordnung des jährlichen Bruttoinlandprodukts. Technisch wäre das machbar, wenn man etwa 25 Prozent des Jahresverbrauchs an Energie als Wasserstoff importieren und hier die Speicher für Reserven aufbauen könnte.

Atomstrom ist nicht erneuerbar, aber CO2-neutral. Ist das keine Alternative zumindest als Teil eines Produktionsmixes?
Kernkraftwerke emittieren kein CO2, aber produzieren Abfälle, die man über Tausende von Jahren lagern muss. Die Reserven an Kernbrennstoffen sind ebenfalls beschränkt. KKWs sind deshalb nur eine kurzfristige Lösung mit langfristigen Folgen.

Ausgeklammert haben Sie in Ihren Szenarien den Schiffs- und den Flugverkehr – die benötigten Batterien für Elektroantrieb wären zu schwer oder zu gross. Wie sieht Ihre Lösung dafür aus?
Das Energiesystem basierend auf synthetischen Kohlenwasserstoffen adressiert genau diesen Bereich. Für die Flugzeuge muss synthetisches Kerosin hergestellt werden. Die Fischer-Tropsch-Synthese erlaubt, aus Wasserstoff und CO2 aus der Luft Kerosin herzustellen und ist in grossen Anlagen eine etablierte Technologie.

Die Sicherung der Energieversorgung trotz Senkung der CO2-Emmissionen ist nicht nur ein Schweizer Problem. Andere Länder stehen vor derselben Herausforderung. In Deutschland werden vor den Küsten Windparks aufgestellt und sind  beispielsweise landwirtschaftlich genutzte Flächen neuerdings mit Solarpanels dekoriert.

Wird künftig statt um Ölvorkommen um Flächen für Solaranlagen gekämpft?
Nein, ich sehe nicht einen Kampf um Flächen, sondern eher die Konkurrenz unter den internationalen Anbietern. Nordafrika, die arabische Halbinsel oder Australien haben riesige Flächen und viel Sonne. Diese heute ungenutzten Flächen werden in Zukunft erschlossen und werden wirtschaftlich für diese Regionen sehr interessant.

Das wird ein Umdenken nötig machen, insbesondere in der Politik. Was muss im Bundeshaus passieren, um die Energiewende bis 2050 zu schaffen?
Das Hauptproblem heute ist, dass lange Zeit der Eindruck erweckt wurde, erneuerbare Energie werde ohne grossen Aufwand die fossile Energie ersetzen. Davon gehen heute viele Bürger aus und stören sich daran, sobald irgendwo ein Windrad oder eine Photovoltaikanlage aufgestellt wird. Wenn wir unseren Energiebedarf mit erneuerbarer Energie decken wollen, dann müssen wir unsere Umwelt ganz massiv umbauen, um die nötigen Anlagen zu installieren. Die benötigten Speicher sind gross und erfordern gewaltige Bauten. Der Import von erneuerbarer Energie in Form von Wasserstoff würde dabei vieles vereinfachen. Die Schweiz könnte auch proaktiv zum Beispiel in Australien die Anlagen aufbauen, um den Wasserstoff für uns zu produzieren und hier vor Ort die nötigen Speicherkapazitäten aufbauen.

Gefordert wurde aus der Politik bereits ein «Energie-General», um Stromlücken und Energiewende zu bewältigen. Eine gute Idee?
Es braucht keinen General, sondern Speicher und Redundanz, also Systeme, die zum Einsatz kommen, wenn andere ausfallen. Wichtig ist auch ein Plan, der auf Fakten beruht und nicht auf Wunschdenken oder Ideologie. Am Ende hängt die zukünftige Entwicklung unseres Landes davon ab, ob wir die richtigen Entscheidungen treffen und die Energiewirtschaft in Zukunft stabil und zuverlässig funktioniert. Wir brauchen eine Grundlage wie den Sonderbericht von 1912 der Schweizerischen Bahnen. Darin wurde die Lage genau analysiert und dann entschieden, von Kohle zu Elektrizität aus Wasserkraft überzugehen. Der Aufwand, die Bahn zu elektrifizieren und die Wasserkraftwerke zu bauen, war gewaltig, hat sich aber für die Schweiz sehr gelohnt und unser Land entscheidend entwickelt.

Was kann in dieser komplexen Thematik eine Region wie das Frutigland zur Energiewende beitragen?
Wasserkraft, Biomasse und Geothermie können noch mehr genutzt werden. Zudem könnten in den Bergen Gasspeicher gebaut werden. Der komplette Ausbau des Lötschberg-Basistunnels würde auch einen Beitrag zur Reduktion der CO2-Emissionen leisten, indem noch mehr Personen und Güter mit dem Zug durch den Tunnel befördert werden könnten. Das ist effizienter und CO2-neutral.

Die vermeintlich richtige Art der Energieproduktion hat oftmals ideologische Züge. Windkraft-, Wasserkraft- und Photovoltaikanlagen, thermische Kraftwerke oder doch neue Kernkraftwerke? Die Antwort auf diese Frage ist auch ein politischer Standpunkt und sorgt für verbale Auseinandersetzungen.

Welche Rückmeldungen gab es nach der Veröffentlichung Ihrer Berechnungen?
Wir haben viele sehr positive Reaktionen erhalten, weil man die Analyse sehr schätzt und dankbar ist, dass unsere Arbeit auf Fakten beruht und nicht auf unzähligen Annahmen und Wunschdenken. Dadurch, dass wir jedes Energiesystem zu 100 Prozent berechnet haben, lassen sich die Ergebnisse sehr einfach auf die aktuelle Situation anpassen.

Gibt es vergleichbare Arbeiten im Ausland?
Wir haben eine analoge Analyse auch für Japan und Korea gemacht und werden diese bald publizieren. Ich kenne keine solchen Arbeiten aus anderen Ländern, gehe aber davon aus, dass beispielsweise in China die Situation sehr genau analysiert wurde.

Die Wissenschaft hat es oftmals schwer, sich Gehör in der Öffentlichkeit und der Politik zu verschaffen. Wie sieht es mit Ihrer Arbeit aus?
Die hat sehr viel Publizität bekommen und ich habe den Eindruck, dass wir durchaus auch in der Politik wahrgenommen werden. Es ist nicht für alle angenehm festzustellen, dass es mehr zu tun gibt als bisher geglaubt, aber man hat langfristig immer einen Vorteil, wenn man basierend auf den Fakten die Zukunft planen kann.


Die Resultate der drei Berechnungen

Ausgangslage: Die heutigen Energiekosten betragen 3000 Franken pro Kopf und Jahr. Die Atomkraftwerke werden bis 2050 abgeschaltet und basierend auf dem Energiebedarf von 2019 wurden die technischen Anforderungen und die wirtschaftlichen Konsequenzen des Ersatzes der fossilen Energieträger durch erneuerbare Energie analysiert. Allein der Ersatz der Kernkraftwerke erfordert bis 2050 pro Kopf 16 Quadratmeter Solarfläche, dazu kommen grosse Speicher und vier neue Pumpspeicherkraftwerke von der Grösse von Grande Dixence für den Winter. Künftig werden auch immer mehr Geräte mit Strom aus umweltfreundlichen Quellen betrieben, angefangen von Wärmepumpen bis hin zu Fahrzeugen.
Szenario 1 (Photovoltaik / Wasserkraft): Energetisch wäre die vollständige Energieversorgung durch Elektrizität am effizientesten. Alle Gebäude müssten mit Wärmepumpen ausgerüstet werden, alle Fahrzeuge und die Industrie auf Elektrizität umstellen. Der Elektrizitätsverbrauch pro Kopf würde um geringe 1000 Watt steigen. Nötig wären aber 48 Quadratmeter Solarfläche pro Kopf (dreimal die verfügbare Dachfläche der Schweiz) und zusätzlich 9 Grande-Dixence-Pumpspeicherkraftwerke. Dafür gibt es zu wenig geeignete Täler, abgesehen von den nötigen Bewilligungen. Alternative: Teilweiser Import von Wasserstoff und Produktion von Elektrizität im Wasserstoff-Kraftwerk.
Szenario 2 (Wasserstoff): Klimaneutraler Wasserstoff wird mit erneuerbarer Energie (zum Beispiel Photovoltaik und Elektrolyse) erzeugt, dabei geht Energie verloren. Deshalb würden 116 Quadratmeter Solarfläche pro Kopf benötigt. Zusätzliche Wasserkraftwerke wären nicht nötig, aber grosse unterirdische Tanks zur Speicherung des Wasserstoffs für den Winter. Berechnet wurde ein Bedarf von 25 Speichern in der Dimension des Gotthard-Basistunnels. Die Energiekosten würden pro Kopf von 3000 auf 5683 Franken steigen.
Szenario 3 (synthetische Kraftstoffe):
Synthetische Kraftstoffe werden durch chemische Verfahren hergestellt und würden ermöglichen, dass Öl- und Gasheizungen weiterhin eingesetzt werden könnten. Fahrzeuge würden mit synthetischem Diesel, Benzin oder Gas fahren, wie auch die Flugzeuge (in Szenario 1 und 2 nicht berücksichtigt). Der Treibstoff würde mithilfe von Wasserstoff aus Ökostrom und aus CO2 in der Luft produziert, was aber grosse Energiemengen benötigt. Die Folgen: Ganze 4,5 Prozent der Schweizer Fläche würden mit Solarzellen bedeckt (zwölfmal die vorhandene Dachfläche) und riesige Speicher von 109 Kilowattstunden pro Kopf müssten für die chemische Industrie Strom speichern, um diese synthetischen Kraftstoffe herstellen zu können. Energiekosten pro Kopf: 9766 Franken pro Jahr.

HSF


ZUR PERSON

Der 59-jährige Andreas Züttel stammt ursprünglich aus Bern und lebt seit letztem Herbst in Kandersteg. Er ist ausgebildeter Chemiker und Physiker und Professor für physikalische Chemie an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) in Sitten. Er leitet dort das gemeinsame Energieforschungslabor der Eidgenössischem Materialprüfungsanstalt (EMPA) und der EPFL. Ins Kandertal gezogen haben ihn das angenehme Klima und die wunderschöne Landschaft, wie er sagt.

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