«Die Beziehungen ändern sich»
15.07.2022 Mülenen, Emdthal, GesellschaftEMDTAL Das neue Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG) stellt das bisherige System auf den Kopf. Unterstützungsgelder fliessen künftig nicht mehr direkt an die Behinderteneinrichtungen, sondern an die Leistungsbezüger selbst – und zwar unabhängig davon, ob ...
EMDTAL Das neue Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG) stellt das bisherige System auf den Kopf. Unterstützungsgelder fliessen künftig nicht mehr direkt an die Behinderteneinrichtungen, sondern an die Leistungsbezüger selbst – und zwar unabhängig davon, ob sie in einem Heim leben oder nicht. Was das für Einrichtungen wie die Stiftung Bad Heustrich bedeutet, erklärt Institutionsleiter Arnold Sieber im Gespräch mit dem «Frutigländer».
Was halten Sie vom Systemwechsel, Herr Sieber?
Ich finde es gut, dass der Geldfluss künftig über die Menschen mit einer Beeinträchtigung läuft. Sie werden dadurch zum Kunden und erhalten mehr Wahlfreiheit. Das ermöglicht auch individuellere Lösungen, zum Beispiel das Wohnen in einer eigenen Wohnung mit entsprechender Unterstützung. Auch die Wahl des Helfers wird verbessert – ob Heim, Assistenz oder Familie. Jeder Mensch soll diejenigen finanziellen Mittel bekommen, die er durch seine Beeinträchtigung benötigt.
Wo sehen Sie noch Lücken oder Probleme?
Den behinderungsbedingten Bedarf jedes Einzelnen individuell zu ermitteln, wird aus meiner Sicht eine grosse Herausforderung. Auch wird es für die Menschen mit einer Behinderung schwierig auszudrücken, was sie wirklich wollen. Wie bei allen Menschen kann dies je nach Situation und Gesprächspartner schwanken. Dass Eltern und Angehörige künftig entschädigt werden, ist zwar definitiv eine gute Entwicklung. Allerdings habe ich auch leichte Bedenken, dass dadurch weniger Erwachsene den Schritt in die Eigenständigkeit wagen könnten.
Sie haben es angetönt: Nicht jeder Mensch mit Behinderung kann sich selbst verwalten und seine Bedürfnisse artikulieren. Wie kann Subjektfinanzierung in solchen Fällen gelingen?
Dies ist eine spannende Frage und es muss sich zeigen, wie das professionelle Helfersystem dies lösen kann. Ich gehe davon aus, dass gesetzliche Vertretungen einen grossen Teil übernehmen können und auch müssen. Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung (je stärker desto mehr) oder Menschen, die sich nicht verständlich ausdrücken können, werden wohl die Unterstützung von Vertrauenspersonen benötigen.
Was bedeutet der Systemwechsel für Institutionen wie die Stiftung Bad Heustrich?
Die Beziehungen und das Selbstverständnis ändern sich: Der Mensch wird direkt zum Kunden. In vielen Institutionen – auch bei uns – wird dies allerdings schon heute so gelebt.
Müssen Sie jetzt stärker als Dienstleister auftreten und für Ihre Leistungen werben?
Der Kanton spricht schon lange davon, dass die Institutionen betriebswirtschaftlich arbeiten sollen. Dies würden wir auch gerne tun, doch bremst der Kanton aktuell noch mit den Leistungsverträgen und der darin definierten Anzahl bewilligter Plätze oder vorgegebener Leistungspreise usw. diese Bestrebungen aus. Institutionen können aktuell nicht anbieten, wofür sie die geforderte Qualität hätten. Aber um auf die Frage direkt zurückzukommen: Ja, die Institutionen müssen ihre Angebote noch klarer nach den Bedürfnissen der Menschen ausrichten, die Nachfrage bestimmt das Angebot. Die Stiftung Bad Heustrich und andere haben aber bereits vor mehreren Jahren begonnen, das Angebot den Bedürfnissen anzupassen, soweit dies unter den aktuellen Rahmenbedingungen möglich ist. Sicherlich werden der Auftritt und die Werbung der Institution in Zukunft noch etwas wichtiger.
Sind Wohnplätze künftig weniger begehrt?
Aktuell gehe ich noch nicht davon aus. Das Angebot der Wohnplätze wird sich aber sicher ändern. Es gibt einen Trend hin zu kleineren Wohngruppen oder Wohnungen in Wohnquartieren. Auch in dieser Hinsicht bewegt sich die Stiftung Bad Heustrich bereits. So wurde das Angebot der Wohnschule Aurora in Spiez mit dem vor ein paar Jahren erstellten Neubau angepasst. Seit diesem Sommer besteht das Haupthaus aus kleineren Wohneinheiten: im Erdgeschoss gibt es eine Vierer-WG, im Obergeschoss drei Singlewohungen und im Dachgeschoss eine Zweier-WG. Auch wurde am Standort Heustrich eine Wohnung in zwei Wohnungen aufgeteilt.
Diese Umbaumassnahmen gehen freilich auch ins Geld. Statt Krediten sollen Institutionen künftig eine Infrastrukturpauschale erhalten. Eine gute Lösung?
Die neu im BLG vorgesehene Pauschale soll es den Institutionen ermöglichen, den Unterhalt ihrer Gebäude zu planen und Rückstellungen zu machen. Lange Gesuche sollten damit Geschichte sein. Dies scheint aktuell ein Vorteil zu sein. Natürlich kommt es dann auf die Höhe der Pauschale an – und darauf, wie der Übergang gestaltet wird.
INTERVIEW: BIANCA HÜSING