Organisieren bleibt sein Metier

  22.07.2022 Region

Knapp zehn Jahre lang leitete Martin von Gunten (43) die regionale Zivilschutzorganisation Niesen. Beim Aufgleisen der künftigen Strukturen hat er stark mitgewirkt, nun wechselt er in die Privatwirtschaft. Ein Gespräch über Murgänge und Personalsorgen.

HANS RUDOLF SCHNEIDER
Die aktuellen Bilder vom Kemmeriboden-Bad und der Region Schangnau sind beängstigend. Innert kürzester Zeit wurde das Gebiet nach heftigen Unwettern geflutet, Wasser und Schlamm haben immense Zerstörungen angerichtet. Martin von Gunten, Leiter der Zivilschutzorganisation Niesen (ZSO), deponierte beim Kanton umgehend ein Hilfsangebot für den Fall, dass Bedarf an überregionaler Unterstützung bestehe. Er selbst habe in der Zeit als Kommandant glücklicherweise keine so grossen Ereignisse zu bewältigen gehabt. Aber über zu wenig Arbeit für seine Leute könne er sich trotzdem nicht beklagen, wenn er auf seine knapp zehn Jahre im Oberland zurückblicke. Er zieht Bilanz, bevor er auf Anfang September in die Privatwirtschaft wechselt.

Ernsteinsatz am Ski-Weltcup
Lokale Naturereignisse wie Murgänge hatte die ZSO Niesen immer mal wieder zu bewältigen – in Kandersteg, Därstetten oder Oberwil. Doch diese sind kein Vergleich zu den jüngsten im Emmental oder den grossen Unwettern in den Jahren 2005 und 2011 in Mitholz, Kien und Diemtigen. Dafür ist von Gunten dankbar. In deutlicher Erinnerung ist ihm aber ein aussergewöhnlicher Einsatz im Januar 2018 geblieben. Die ZSO baute gerade in Adelboden die Infrastruktur für den Ski-Weltcup auf, als die Staatsstrasse oberhalb des Lintertunnels ins Tal hinunter rutschte. Weitere Murgänge drohten in der ganzen Region. Für von Gunten als Organisator eine neue Herausforderung: Rund 35 Mann waren plötzlich in Adelboden blockiert, durch den starken Regen bis auf die Haut durchnässt und ohne Unterkunft, da sie normalerweise während des Weltcup-Einsatzes zu Hause übernachteten.

In der Folge wurde eingekauft – trockene Socken, Unterwäsche, Zahnbürsten, Duschmittel – und die Landwirte mussten ihren Betrieb zu Hause telefonisch umorganisieren. Der Kommandant gab das Versprechen ab, «dass es bei einer Nacht in Adelboden bleiben wird» und organisierte tatsächlich für den folgenden Abend Helikopterflüge nach Frutigen. Auch eine eigene Küchenmannschaft wurde eingeflogen, da das in Frutigen vorbereitete Essen nicht mehr angeliefert werden konnte.

Gleichzeitig half ein auswärtiger Zivilschutzkommandant aus, allfällige Probleme nach den Unwettern unterhalb der Schadenstelle zu organisieren. Schliesslich wurde die Strasse notdürftig repariert, der Zivilschutz hatte die Infrastruktur fertig aufgestellt und das Skifest konnte dennoch stattfinden. «Für mich ist noch heute beeindruckend, wie gut trotz aller Unannehmlichkeiten die Stimmung bei den ‹Gestrandeten› war», schaut von Gunten gerührt zurück.

Diskussionen mit den Arbeitgebern
Solche Hektik kannte er aus seiner vorherigen sechsjährigen Arbeit als Zivilschutzkommandant in Kirchberg kaum. Er habe damals oft bei anderen Organisationen mitgeholfen. Die Unterschiede zwischen Mittelland und Berggebiet in Bezug auf Einsatzmöglichkeiten oder -bedarf seien schon gross.

Hier habe er manchmal Mühe gehabt, mit den gesetzlich erlaubten Einsatztagen sein Programm zu bewältigen – zwischen 3 und 21 Tagen darf ein Zivilschützer geplant aufgeboten werden, Ernstfälle nicht eingerechnet. «Der Durchschnitt bei der ZSO Niesen liegt bei rund 15 Tagen. Diese Dienste geben ab und zu Diskussionen mit Arbeitgebern. Vom Gesetz her bin ich auf der sicheren Seite, aber im Gespräch mit den Chefs konnte meistens ein Kompromiss gefunden werden.» Er kenne auch Organisationen, die ihre Leute jährlich nur für das Minimum von drei Tagen Fachausbildung aufbieten würden. «Da verstehe ich hiesige Arbeitgeber, die das nur schwer verdauen.»
Zu den planbaren Einsätzen gehören beispielsweise der erwähnte Weltcup und im laufenden Jahr das oberländische Turnfest in Frutigen sowie das oberländische Schwingfest in Oey-Diemtigen. Doch auch die Gemeinden haben Bedarf, sie finanzieren die Organisation mit jeweils 13 Franken pro Einwohner und erwarten eine Gegenleistung – zum Beispiel die Instandstellung von Wanderwegen nach strengen Wintern. Dieses Jahr sind bereits über 15 solcher Einsätze geleistet worden. So ist für die rund 220 Angehörigen das Maximum von Diensttagen bald einmal ausgeschöpft. Ab und zu wurde ein Wiederholungskurs deshalb auch zurückgestellt.

Tendenziell zu wenig Personal
Auch die übergeordnete Gesetzgebung machte für Martin von Gunten die Planung nicht gerade einfacher. Durch eine Anpassung im Bundesgesetz wurde die Schutzdienstpflicht von 20 auf 14 Jahre reduziert. Zudem senkte die Armee die Mindestanforderungen für die Diensttauglichkeit, um selbst mehr Personal zu erhalten. Das bedeutet, dass tendenziell auch mehr Militärdiensttaugliche in den Zivildienst abwandern. Am Ende wird bei den nachgelagerten Zivilschutzorganisationen die Personaldecke immer dünner. «Als ich 2013 hier angefangen habe, hatte ich pro Jahr 20 bis 25 Neurekrutierungen. Heute sind es noch 11 bis 13. Die Bestände sinken sehr rasch.»

Die Folge: Eine Zusammenarbeit in immer grösseren Einheiten ist nötig, um die zunehmenden Aufgaben bewältigen zu können. Als Beispiel für neue Aufgaben zählt von Gunten die Hilfe bei Massentests in Schulen oder den Betrieb von Impfzentren auf. «Solche Einsätze haben wir zwar theoretisch schon früher diskutiert, dass diese aber in so einem grossen Umfang nötig würden, hat niemand ernsthaft in Betracht gezogen.»

Zusammenarbeit organisiert
Das Image des «Bettenbauers» wird der Zivilschutz wohl nie ganz los. Heute handelt es sich aber um professionelle Unterstützungsformationen, die bei Ereignissen aller Art die Feuerwehr nach einem Tag ablösen und eine gewisse Durchhaltefähigkeit haben müssen. Die Leistung sei abhängig vom Personal – und von Gunten lobt sein gut funktionierendes Team, auf das er sich stets verlassen konnte.

Gleichzeitig mit ihm beendet auch der Vizekommandant Lorenz Kallen nach 29 Jahren seine Miliztätigkeit. Die engere Zusammenarbeit der Zivielschutzorganisationen Niesen und Saanen plus begrüsst von Gunten deshalb sehr (siehe Kasten). Er hat bei der Neukonzeption mitgewirkt, hat diese mitgestaltet und ist entsprechend überzeugt davon. Die Umsetzung überlässt er nun jedoch seinem Nachfolger.

Für von Gunten geht es jetzt in die Sommerferien, und ab September setzt er seine organisatorischen Fähigkeiten bei einem zivilen Transportunternehmer in Belp als Disponent und stellvertretender Geschäftsführer ein. «Das Transportgewerbe hat mich immer fasziniert. Ich bin schon in der Vergangenheit ab und zu für meinen neuen Chef gefahren», erklärt Martin von Gunten.

Ausserdem hat der neue Job einen gewaltigen Vorteil für den dreifachen Vater: Er wird nicht mehr rund um die Uhr und in den Ferien quasi auf Pikett sein und das Mobiltelefon in Griffweite haben müssen.


Engere Zusammenarbeit mit Saanen plus vereinbart

Die Kündigung von Martin von Gunten sowie die Pensionierung des Saaner Zivilschutzchefs Markus Oehrli waren Auslöser dafür, die bestehenden Strukturen zu überprüfen. Eine Rolle spielten auch die sinkenden Bestände. Das Resultat: Künftig werden die beiden Zivilschutzorganisationen Niesen und Saanen plus eine «vertiefte Zusammenarbeit» pflegen. Konkret bedeutet dies, dass das westliche Oberland – die Verwaltungsbezirke Frutigen-Niedersimmental (exklusiv Spiez) und Obersimmental-Saanen eine gemeinsame Leitung und ZSO-Geschäftsstelle mit Sitz in Frutigen haben. Die Führung übernimmt am 1. September 2022 Mathias Rosser, Vizekommandant ist seit dem 1. Juni Martin Ruchti (der «Frutigländer» berichtete). Die Verantwortlichen und Einsatzstrukturen vor Ort bleiben bestehen, nur das Kommando wird gemeinsam organisiert, was den Verwaltungsapparat reduziert. Vorteile der neuen Strukturen sind zudem die einfachere Unterstützung bei Ereignissen durch ZS-Angehörige aus dem erweiterten Einzugsgebiet oder die Einsatzplanung für die Wiederholungskurse.

HSF


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