«Allein in Frutigen bearbeiten wir rund 950 Fälle pro Jahr»
26.05.2023 Frutigen, GesundheitVor vier Jahrzehnten nahm am Spital Interlaken der Psychiatrische Dienst seine Arbeit auf. Aus dem damaligen Ein-Mann-Betrieb ist mittlerweile eine Abteilung mit über 140 Mitarbeitenden geworden, auch in Frutigen gibt es einen Standort. Im Interview sprechen der ...
Vor vier Jahrzehnten nahm am Spital Interlaken der Psychiatrische Dienst seine Arbeit auf. Aus dem damaligen Ein-Mann-Betrieb ist mittlerweile eine Abteilung mit über 140 Mitarbeitenden geworden, auch in Frutigen gibt es einen Standort. Im Interview sprechen der geschäftsführende Chefarzt Thomas Ihde und sein Stellvertreter Andreas Stucki über ihre Arbeitsweise und die Besonderheiten der Region.
MARK POLLMEIER
1977 verabschiedete der Grosse Rat des Kantons Bern ein Programm zur psychiatrischen Versorgung. Ein wichtiger Pfeiler dieses sogenannten Berner Modells waren ambulante Stützpunkte, die den damaligen Regionalspitälern angegliedert wurden. Ab Mai 1983 gab es auch am Spital Interlaken ein ambulantes psychiatrisches Angebot: den «PDI», den Psychiatrischen Dienst Interlaken. Dessen personelle Ausstattung war zu Beginn überschaubar: Die neue Abteilung umfasste einen Chefarzt und eine Sekretärin.
Der Fachbereich entwickelte sich anfangs eher langsam. Erst im Jahr 2012 entstand auch in Frutigen ein psychiatrisches Ambulatorium.
Vor allem in den letzten 15 Jahren wurde das psychiatrische Angebot der Spitäler fmi AG jedoch stark ausgebaut. Dieses Wachstum beruhte einerseits auf einem Nachholbedarf: An anderen Regionalspitälern wie Thun oder Burgdorf waren die psychiatrischen Abteilungen schon früher ausgebaut worden. Auf der anderen Seite stieg aber auch die Nachfrage nach psychiatrischer Behandlung.
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Herr Ihde, Herr Stucki, vor 40 Jahren startete die Psychiatrie am Spital Interlaken mit zwei Mitarbeitenden – heute sind es 143. Eine beachtliche Expansion.
Thomas Ihde: ... die sich aber im Wesentlichen von allein entwickelt hat. Wir sind ja sozusagen ein umgekehrter Markt.
Das heisst: Die Patientinnen und Patienten kommen zu Ihnen.
Thomas Ihde: Genau. Und wenn uns jemand aufsucht, ist eine unserer ersten Fragen: Wo wohnen Sie? Wir dürfen nämlich nur PatientInnen aus unserem Einzugsgebiet behandeln. Hier allerdings sind wir mit unserem Angebot fast allein: Es gibt kaum niedergelassene Psychiater.
Wer also ein psychisches Problem hat, wendet sich fast immer an Sie.
Andreas Stucki: Sofern er oder sie über 18 Jahre alt ist: Ja. Die Kinder- und Jugendpsychiatrie für das Berner Oberland ist in Spiez konzentriert. Trotzdem bearbeiten wir aktuell rund 5000 Fälle pro Jahr, allein hier in Frutigen sind es rund 950.
Also fast 20 Fälle pro Woche – eine überraschend hohe Zahl. Wie kommen die Betroffenen zu Ihnen?
Andreas Stucki: Wir arbeiten so niederschwellig wie möglich, das heisst: Jede und jeder kann mit uns Kontakt aufnehmen. Die Betroffenen selbst, Ärzte, Angehörige, Arbeitgeber ...
Für Laien sind psychische Probleme und Erkrankungen meist schwer einzuschätzen. Angenommen, es ruft jemand bei Ihnen an – wie läuft dieser Erstkontakt ab?
Thomas Ihde: Bis sich jemand bei uns meldet, ist oft schon eine lange Zeit des Überlegens vergangen. Wir achten deshalb darauf, dass es schon am Telefon eine konkrete Erstberatung gibt. In dieser zeigen wir auf, was die nächsten Schritte sein können und machen, wenn möglich, auch schon einen Termin ab.
Wer geht ans Telefon, wenn ich bei Ihnen anrufe?
Andreas Stucki: Der Telefondienst wird von verschiedenen Mitarbeitenden abgedeckt. Das können Psychologinnen sein, Ärzte oder Pflegekräfte. Sie alle haben viel Erfahrung, sodass sie die Situation einschätzen können.
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Als einer der ersten hat der Psychiatrische Dienst der fmi-Spitäler interdisziplinär gearbeitet, also Fachleute aus verschiedenen medizinischen, therapeutischen und sozialen Bereichen zusammengebracht. Anfangs war dieses fachübergreifende Arbeiten auch den knappen personellen Ressourcen geschuldet. Mittlerweile betrachten es Thomas Ihde und Andreas Stucki als grosse Stärke. Ihde nennt als Beispiel einen Patienten, der eigentlich wegen einer Lungenkrankheit ins Spital kommt. Bei der Besprechung des Krankheitsbildes stellt sich heraus, dass der Mann auch an einer Depression leidet, die nun ebenfalls behandelt werden kann. Auch die vielfältigen Demenzerkrankungen, die in einer alternden Gesellschaft häufiger werden, erfordern die Zusammenarbeit verschiedener Fachleute.
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Wir sitzen hier über dem Rettungsdienst, in den Garagen unter uns stehen die Ambulanzfahrzeuge, die etwa bei einem Unfall schnell ausrücken können. Was ist mit psychischen Notfällen, bei denen schnelles Handeln erforderlich ist?
Thomas Ihde: Auch wir haben schon seit 1987 einen Notdienst, der in solchen Situationen sofort entscheidet, was zu tun ist. Allein in Interlaken haben wir etwa fünf Notfälle pro Tag.
Um welche Situationen geht es dabei?
Thomas Ihde: Um ganz verschiedene. Es meldet sich zum Beispiel eine Studentin, die glaubt, einen Herzinfarkt zu haben und deswegen völlig panisch ist. Es geht um Ehekrisen, um Suizidfragen, um Probleme am Arbeitsplatz.
Sie sprechen die Situation am Arbeitsplatz an. Laut Statistik hat eine psychiatrische Behandlung bei Erwachsenen in fast 60 Prozent der Fälle einen Zusammenhang mit dem Berufsalltag. Die Betroffenen fallen häufig monatelang aus. Wie kommt es zu dieser hohen Quote?
Thomas Ihde: Das hat verschiedene Gründe. Einer davon ist die Prävention. Grössere KMU und Konzerne haben heute häufig eine eigene Gesundheitsversorgung, die auch die psychischen Probleme ihrer Mitarbeitenden im Blick hat. In kleinen Betrieben ist das Verhältnis so vertraut, dass man dort aufeinander achtet. Schwieriger ist es in den mittelgrossen Firmen.
Die sind zu klein für eine eigene Gesundheitsabteilung und zu gross für den engen, persönlichen Kontakt im Team.
Thomas Ihde: So kann man es formulieren. Wenn in einem solchen Betrieb jemand psychische Probleme hat, zieht sich das häufig über längere Zeit hin. Irgendwann häufen sich die Krankschreibungen, die Leistung nimmt ab. Das ist dann der Moment, in dem der Arbeitgeber oder ein Vorgesetzter aktiv werden.
Was an sich ja gut ist.
Thomas Ihde: Das ist gut, aber häufig zu spät. Meist kommen die Betroffenen zu uns, wenn es gar nicht mehr anders geht. Wir haben dann gar keine andere Wahl mehr, als einen Patienten erst einmal krankzuschreiben. Und natürlich gestaltet sich dann auch die Behandlung langwieriger, als wenn man früher interveniert hätte. Das erklärt die langen Ausfallzeiten, die Sie erwähnt haben.
Trotzdem bleibt die Frage, warum offenbar viele Menschen am Arbeitsplatz psychische Erkrankungen entwickeln.
Thomas Ihde: Die mentalen Anforderungen sind einfach enorm gestiegen. Nehmen Sie allein die Digitalisierung. In grösseren Betrieben laufen heute schon die Putzteams mit einem Tablet-Computer herum und bearbeiten dort ihre Checklisten. Auch die ständige Erreichbarkeit per E-Mail und Handy ist für uns alle sehr fordernd. Gleichzeitig ist die Toleranz in der Arbeitswelt gesunken.
Was meinen Sie damit?
Thomas Ihde: Von heutigen ArbeitnehmerInnen wird viel gefordert. Jemand, der die erwartete Leistung nicht bringt, gerät schnell in einen Teufelskreis. Die Sorgen um die Arbeit führen zu Schlaflosigkeit, was die Situation noch verschlimmert und die Angst vor dem Versagen nur noch vergrössert.
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Ob geografisch, wirtschaftlich oder demografisch: Jede Region hat ihre Eigenarten, und diese haben auch Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Wirtschaftlich ist das Frutigland je nach Ort stark vom Tourismus oder von der Landwirtschaft geprägt. Zumindest bei den Einheimischen ist der soziale Zusammenhalt noch stärker ausgeprägt als etwa in den Städten oder der Agglomeration. Solche und andere Faktoren beeinflussen auch die Arbeit des Psychiatrischen Dienstes.
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Wir haben über Betriebe im Allgemeinen gesprochen. Unsere Region ist stark landwirtschaftlich geprägt. Wie steht es um diese Branche?
Andreas Stucki: Obwohl die Landwirtschaft seit Jahren im Wandel ist und einzelne Betriebe sicher grosse Herausforderungen zu bewältigen haben, ist es in dieser Branche relativ ruhig.
Vielleicht ist es ein Vorteil der Region, dass man sich hier kennt und gegenseitig unterstützen kann?
Andreas Stucki: Tragfähige Netzwerke sind sicher hilfreich. Gleichzeitig macht eine kleinräumige Gegend Menschen auch verwundbar.
Wie meinen Sie das?
Thomas Ihde: Wenn Sie in der Stadt ein Problem haben, ziehen Sie ein paar Strassen weiter und niemand kennt Sie mehr. Auf dem Land können Sie solche Schwierigkeiten nicht mit Mobilität lösen. Hier sind die Menschen fest verwurzelt mit ihrem Grund und Boden. Wer sich beispielsweise mit dem Nachbarn verkracht, kann nicht einfach wegziehen, gerade in der Landwirtschaft geht das nicht. Und wer aus irgendeinem Grund stigmatisiert ist, kann dem nicht so leicht entkommen.
Stichwort Stigmatisierung: Wird man heute noch schräg angeschaut, wenn man eine psychische Erkrankung hat?
Andreas Stucki: Das kommt auf die Erkrankung an. Viele sind heute allgemein akzeptiert, andere weniger.
Was wäre zum Beispiel eine weniger akzeptierte Krankheit?
Thomas Ihde: Die Schizophrenie* zum Beispiel hat heute ein negatives Image. Das war schon immer so. In den letzten 30 Jahren hat die Stigmatisierung aber noch einmal deutlich zugenommen.
Wie kommt das?
Thomas Ihde: Das hat unter anderem mit falschen Bildern und Mythen zu tun, die mit der jeweiligen Krankheit verbunden werden. Aber auch psychische Probleme aufgrund von Alkoholmissbrauch sind vielfach ein Tabu.
Andreas Stucki: Dabei ist dieser relativ häufig – gerade in Berggemeinden, aber auch in der Tourismusbranche.
Der Tourismus ist im «fmi-Gebiet» stark vertreten, vor allem in der Region Interlaken, aber auch im Frutigland. In der Hotellerie und in der Gastrobranche arbeiten häufig Menschen aus dem Ausland. Haben Sie auch Patienten aus diesem Umfeld?
Thomas Ihde: Ja, auch der Tourismus gehört zu unserem Arbeitsbereich. Die Branche hat eine geringe Wertschöpfung und zudem ein sehr saisonabhängiges Geschäft. Die Arbeitsbedingungen sind vielfach hart, das Personal ist hochmobil, bei ausländischen Mitarbeitenden fehlt oft ein soziales Netzwerk in der Schweiz. Dafür ist Alkohol jederzeit verfügbar. Dass man hier psychische Probleme entwickeln kann, ist naheliegend.
Sie erwähnen die ausländischen Arbeitskräfte. Nicht alle von ihnen sprechen gut Deutsch. Erschweren die sprachlichen Hürden die Behandlung?
Thomas Ihde: In diesen Bereich haben wir stark investiert: Wir arbeiten mit professionellen DolmetscherInnen zusammen.
Andreas Stucki: Hürden abzubauen ist für unsere Arbeit sehr wichtig, das gilt für alle Bevölkerungsgruppen.
Woran denken Sie da etwa?
Andreas Stucki: Wir haben in der Region zum Beispiel viele Freikirchen, deren Mitglieder teilweise einen anderen Blick auf psychische Erkrankungen haben als wir. Aber dank Gesprächen mit Vertretern von Freikirchen hat sich der Kontakt verbessert, wir pflegen mittlerweile eine gute Zusammenarbeit.
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In den Medien war die Zunahme psychischer Erkrankungen bei jungen Menschen zuletzt sehr präsent, die Fallzahlen der Altersgruppe bis 24 Jahre sind in den letzten Jahren geradezu explodiert. Vor allem Mädchen und junge Frauen sind stark betroffen. Vielerorts fehlt es an Personal, junge Menschen warten teils Monate lang auf Behandlungsplätze. Jugendliche gelten zurzeit als die am stärksten unterversorgte Patientengruppe der Psychiatrie. Auch wenn der Psychiatrische Dienst der fmi-Spitäler nicht für Kinder und Jugendliche zuständig ist, beobachten Andreas Stucki und Thomas Ihde diese Entwicklung ebenfalls.
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Herr Ihde, Herr Stucki, worauf führen Sie die starke Zunahme von psychischen Problemen bei jungen Menschen zurück?
Thomas Ihde: Ich sehe da keine riesigen Veränderungen. Junge Menschen standen in unserem Fachgebiet schon vorher im Fokus – was eigentlich auch kein Wunder ist. Die Ausbildung, das Erwachsenwerden, der Übergang ins Berufsleben sind herausfordernde Jahre.
Aber sind die Zahlen nicht in den letzten zwei, drei Jahren stark gestiegen? Vielfach wird hier ja ein Zusammenhang zur Pandemie vermutet: Die Corona-Zeit habe den jungen Menschen psychisch besonders zugesetzt.
Andreas Stucki: Nach meinem Eindruck sind junge Menschen gerade auf dem Land besser durch die Pandemie gekommen als etwa in der Stadt – einfach, weil man hier einen anderen, vielleicht etwas entspannteren Umgang damit hatte.
Thomas Ihde: Im Zusammenhang mit Corona war ja viel von Polarisierung die Rede, von der Spaltung der Gesellschaft. In meinen Augen hat diese Entwicklung schon viel früher begonnen. Es gibt heute in vielen gesellschaftlichen Bereichen nur noch Schwarz oder Weiss, Dafür oder Dagegen. Junge Menschen, vor allem jene, die in den sozialen Medien unterwegs sind, müssen sich ständig entscheiden, auf welcher Seite sie stehen.
Also ein zusätzlicher Stressfaktor in einem ohnehin schon herausfordernden Alter.
Thomas Ihde: Genau. Die Sorge, eine «falsche» Meinung zu haben, den falschen Lebensentwurf zu wählen, ist allgegenwärtig. Hinzu kommt, dass die Anforderungen an Ausbildung und Beruf – wie bei uns allen – auch für Jugendliche stark gestiegen sind. Aber wie gesagt: Das ist eine Entwicklung, die schon vor Corona begonnen hat.
Werden wir also eine weitere Zunahme psychischer Probleme bei Jugendlichen erleben?
Thomas Ihde: Ich glaube, dass sie einen anderen Umgang damit entwickeln werden. Wenn ich, etwa an Schulen, mit Jugendlichen ins Gespräch komme, bin ich immer wieder überrascht, was die mich fragen.
Zum Beispiel?
Thomas Ihde: Sie machen sich viel mehr Gedanken um ihre psychische Gesundheit als viele Ältere. Sie reden ganz offen über Meditationsformen, fragen nach Krankheitssymptomen, interessieren sich fürs Heilfasten ...
Also ein bewussterer Umgang mit der Thematik?
Thomas Ihde: Ja, und dieser Präventionsgedanke ist wichtig. Verglichen mit anderen Bereichen der Medizin sind die Fortschritte in unserem Fachgebiet sehr viel kleiner – weil die Materie so komplex ist. Verglichen mit dem menschlichen Gehirn ist ein Knie oder ein Hüftgelenk eine einfache Sache. Die Prävention, das rechtzeitige Erkennen psychischer Probleme ist deshalb umso wichtiger. Und da ist die Jugend auf einem guten Weg.
Andreas Stucki: Es braucht beides: Prävention und gute Behandlungsmöglichkeiten. Es stimmt natürlich: Solche Fortschritte, wie sie etwa die Orthopädie gemacht hat, gibt es bei uns nicht. Aber auch die Psychiatrie ist in vielen Fällen erfolgreich: Die meisten Menschen, die zu uns kommen, gehen irgendwann wieder raus – und es geht ihnen wieder gut.
Informationen zum Behandlungangebot des Psychiatrischen Dienstes der fmi-Spitäler finden Sie unter www.spitalfmi.ch/angebot
Öffentliche Vortragsreihe der Spitäler fmi AG
Am Mittwoch, 23. August, 19 Uhr, wird Thomas Ihde am Spital Frutigen einen Vortrag halten: «Alles im grünen Bereich? Tipps für die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz.» Der Eintritt ist frei. Es ist keine Anmeldung erforderlich, die Platzzahl ist jedoch beschränkt.
* Unter Schizophrenie versteht man eine psychische Erkrankung, die das Denken und die Gefühlswelt der Betroffenen stört. Die Folgen können ein schleichender Realitätsverlust, Trugwahrnehmungen und Wahnvorstellungen sein. Die verbreitete Vorstellung, Schizophrene hätten stets eine «gespaltene Persönlichkeit», trifft dagegen nicht zu.