Arbeiten wie die Archäologen
25.08.2023 Kandergrund, Blausee, MitholzDie Munitionsspezialisten im und um das 1947 explodierte Lager in Mitholz sind weitgehend im Verborgenen tätig. Etliche Tonnen Munitionsüberreste wurden bisher gefunden und teils gesprengt. Aktuell werden Sondiergrabungen im Aussenbereich vorbereitet.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Es ist Handarbeit, dazu noch eine ungewöhnliche und wegen der Schutzanzüge auch beschwerliche. Seit letztem Oktober führen Spezialisten des Kommandos Kampfmittelbeseitigung und Minenräumung (KAMIR) in Mitholz Sondiergrabungen durch. Diese technischen Untersuchungen liefern vertiefte Erkenntnisse zur Lage, Menge und zum Zustand der Munition, die vom Explosionsunglück im Dezember 1947 übriggeblieben ist. Das VBS geht aufgrund der überlieferten Unterlagen davon aus, dass im und um das ehemalige Munitionslager noch bis zu 3500 Bruttotonnen nicht geräumtes Material liegen könnte. Rechnet man Verpackungen, Stahl und sonstige Überreste ab, entspricht das noch immer mehreren hundert Tonnen Sprengstoff.
Die Grabungen dienen zudem dazu, Erfahrungen zu sammeln im Umgang mit den verschiedenen geborgenen Munitionsobjekten. Bisher wurden Sondiergrabungen an zwei Stellen im Innern der Anlage, im ehemaligen Bahnstollen, durchgeführt. Das Kommando KAMIR plant eine Reihe von Sondierungen an Stellen, wo grosse Vorkommen an Munitionsrückständen vermutet werden: im Bereich des Bahnstollens, im Sackstollen am südlichen Ende des Bahnstollens und im Schuttkegel sowie in der Deponie von 1948 vor der Anlage, wie im gestern veröffentlichten neusten Sachstandsbericht erklärt wird (siehe Kasten).
Sicherheit ist zentral
Die bauliche Unterstützung und die Vorbereitungsarbeiten für die Sondiergrabungen führt ein lokales Unternehmen durch. Dessen Angestellte wurden vom Kommando KAMIR ausgebildet und die Firma extra zertifiziert. Für die eigentlichen Grabungen kommen aus Sicherheitsgründen «archäologische Arbeitsmethoden» zum Einsatz, wie es heisst. Konkret bedeutet das gemäss Projektleiter Adrian Goetschi, dass im Bahnstollen maximal eine Person im Einsatz steht. Ausserhalb des Stollens – in der restlichen weitläufigen Anlage – befinden sich parallel dazu weitere Räumungspezialisten. Diese überwachen die Sondierarbeiten und sortieren sowie verpacken die Rückstände. Zudem wurde in bestehenden Stollen ein Zwischenlager für Munition eingerichtet.
In Thun wird gesprengt
Bis Ende Juni 2023 wurden an den beiden bisherigen Sondierstellen knapp 6600 Munitionsobjekte mit einem Kaliber von 20 mm und grösser geborgen. Rund 250 Stück davon mussten aus Sicherheitsgründen in einer dafür geeigneten Anlage von armasuisse W+T (Wissenschaft + Technik) im Raum Thun gesprengt werden. Zusätzlich wurde bereits Handwaffenmunition (kleinkalibrige Patronen) mit einem Gesamtgewicht von rund zwölf Tonnen geborgen. Insgesamt entfernten die Spezialisten bisher rund 24 Tonnen Munition aus dem ehemaligen Bahnstollen. Diese Objekte werden dokumentiert und interessante Teile anschliessend im Labor von armasuisse W+T genauer untersucht und analysiert.
Roboter noch nicht im Einsatz
«Es wird ausschliesslich von Hand mit Spezialwerkzeug und Schutzausrüstung gearbeitet», sagt Adrian Goetschi. Für die aktuellen Sondierungen werden keine Roboter eingesetzt. Parallel dazu werden in Testumgebungen Versuche mit potenziell geeigneten neuen Hilfsmitteln wie dem RobBoa durchgeführt.
Die Munitionsrückstände werden ebenfalls ausschliesslich von Hand sortiert. Bei der Materialtrennung des Aushubmaterials wird die manuelle Triage mit einem mechanischen Rüttelsieb unterstützt. Die Munition wird gemäss den einschlägigen Vorschriften verpackt und die eingesetzten Fahrzeuge sind entsprechend gekennzeichnet. Munitionsschrott, Munitionsrückstände und so genannte «umsetzungsfähige» (explosive) Munitionsstücke werden der Entsorgung zugeführt.
Am 19. Juli 2023 erreichte erstmals eine Lieferung von solcher Munition die Entsorgungseinrichtung der RUAG in Altdorf. Diese Munition gilt als Gefahrengut – für ihren Transport werden strenge Sicherheitsvorschriften eingehalten, wie das VBS festhält. Da bis auf Weiteres ausschliesslich Rückstände ohne Zünder nach Altdorf transportiert werden, ist dafür kein gepanzerter Spezialtransport notwendig.
Rückstände mit Zündern, die aus Sicherheitsgründen gesprengt werden müssen, werden mit speziellen gepanzerten Transportbehältnissen (so genannten Dynasafe-Kugeln) nach Thun transportiert.
Drohne überprüft den Stegenbach
Während die Arbeiten im Innern der Anlage bereits im Gang sind, startet nun auch die erste Grabung im Aussenbereich im südlichen Teil des ehemaligen Bahnverladetunnels. Zur Vorbereitung hat Ende April 2023 eine Spezialdrohne die Gegend des Geschiebesammlers Stegenbach abgesucht. Dort wurden bei Aushubarbeiten für die Verbauungen 1989 etliche Granaten entdeckt und mussten geräumt werden. Die Drohne konnte auch jetzt ferromagnetische Ansammlungen im Boden feststellen, die als eisenhaltige Teile respektive Munition zu interpretieren sind, teilt das VBS mit. An diesen Stellen sollen nun Bohrungen die Lage dieser Munitionsansammlungen bestätigen, damit anschliessend der genaue Standort für die eigentliche Sondiergrabung definiert werden kann. Die Arbeiten zu diesen Bohrungen starteten am 16. August 2023 und dauern – je nach Wetter – rund sechs Wochen.
Alle Sachstandsberichte sowie weitere Projektinformationen finden Sie in den Web-Links unter www.frutiglaender.ch
Sachstandsbericht des VBS: Es geht um die neue Wasserversorgung und den Roboter RoBoa
Mitholz soll nach Ende der Räumung wieder ein attraktiver Ort für die Bevölkerung sein. Im Teilprojekt Wiederbesiedelung unter der Leitung von Raphael Ulrich werden dafür schon heute die Weichen gestellt, wie das VBS im gestern publizierten Sachstandsbericht erklärt. Zum Beispiel müssen alle Verund Entsorgungsleitungen so geplant werden, dass diese langfristig genutzt werden können. Dazu gehört auch die Wasserversorgung der Gemeinde.
Das Reservoir der Wasserversorgungsgenossenschaft Kandergrund (WA-GEKA) kommt an seine Grenzen und es fehlt eine redundante Leitung. Diese Defizite sollen mit der Zusammenlegung der Wasserversorgungen des VBS in der Anlage Mitholz und der WAGEKA behoben werden. Beide Parteien haben dazu eine Absichtserklärung unterzeichnet. Das Bundesamt für Strassen (Astra) hat sich bereit erklärt, sich in die WAGEKA einzukaufen, um während der Räumung sowie langfristig im dannzumal verlängerten Lawinenschutztunnel genügend Löschwassser zur Verfügung zu haben.
Im Kandertal strömt ein ergiebiges Grundwasservorkommen, das mehrere Quellen speist. Verschiedene Bäche fliessen durch das Tal und münden in die Kander. Diese Wasservorkommen zu schützen, hat höchste Priorität. Über die gesamte Projektlaufzeit sollen Fliessgewässer und Grundwasser vor schädlichen Einflüssen geschützt werden. Mit kontinuierlichen Messungen und regelmässigen hydrochemischen Untersuchungen werden die Gewässer permanent überwacht. Entsprechende Schutzmassnahmen sollen verhindern, dass bei Unfällen oder Havarien auf Baustellen, im Rahmen von Räumungsarbeiten oder aufgrund von Munitionsentsorgung Schadstoffe in das Gewässernetz gelangen. Dieses Wassermonitoring ist mit dem «Runden Tisch Grundwasser Oberes Kandertal» koordiniert. 2021 wurden ein Grobkonzept zur Überwachung der Gewässerqualität erstellt und Messstellen in Betrieb genommen. Das nun aktualisierte und ergänzte Monitoringkonzept sieht neu rund 40 Messstellen vor. Um zwei weitere zu schaffen, fanden Ende Juli Bohrungen entlang der Kantonsstrasse statt.
Die Räumung des ehemaligen Munitionslagers Mitholz bringt viele Herausforderungen mit sich. Innovative Lösungen durch technische Neuentwicklungen von Prozessen und Produkten mit Relevanz für die Räumtechnik und die Umwelt werden eine wichtige Rolle spielen. Zum Beispiel, um die Sicherheit zu erhöhen: Maschinen sollen dort arbeiten, wo es für Menschen zu gefährlich ist, oder wo repetitive Arbeit – unter anderem mit Schwerlast – gefordert ist. Auch für eine zeit- und kosteneffiziente Räumung wird Innovation wichtig sein. Zentral ist die Zusammenarbeit mit Institutionen und Partnern aus der Schweizer Industrie- und Forschungslandschaft.
Viele Fragen stellen sich zum ersten Mal. Beispielsweise, wie sich Munition in Felsspalten oder anderen Lagen des verschütteten Bahnstollens erkunden lässt, die für Menschen unzugänglich sind. Eine Lösung könnte die ETH Zürich liefern. Im Mai 2023 wurden Vorversuche mit dem schlangenartigen Roboter «RoBoa» durchgeführt, um aufzuzeigen, wie dieser das Räumungspersonal beim Aufdecken von Munition in Felsspalten unterstützen könnte. Auch wenn sich diese und andere Innovationen noch im Forschungs- und Teststatus befinden – sie werden für eine sichere und effiziente Räumung wichtige Beiträge leisten. Angesichts der langen Projektdauer bleibt Zeit, sie bis zur Einsatzreife weiterzuentwickeln.
Noch nicht genehmigt sind die Finanzen für das Räumungsprojekt: Nach der Zustimmung des Nationalrats im Mai wird der Ständerat voraussichtlich in der Herbstsession vom 11. bis 29. September 2023 über das Geschäft in der Höhe von 2,6 Milliarden Franken beraten.
PRESSEDIENST VBS / HSF