Autismus im Klassenzimmer: Keine Katastrophe, sondern eine Chance
09.09.2025 Gesellschaft, Bildung|Schule, Frutigen«Autismus ist keine Katastrophe – Aber wir müssen darüber reden.» Das ist ein Leitsatz von Linda Saurer. Als Selbstbetroffene wie auch Expertin besucht sie Schulen und zeigt Kindern und Lehrpersonen eindrücklich, was es bedeutet, wenn das Hirn keine Filter ...
«Autismus ist keine Katastrophe – Aber wir müssen darüber reden.» Das ist ein Leitsatz von Linda Saurer. Als Selbstbetroffene wie auch Expertin besucht sie Schulen und zeigt Kindern und Lehrpersonen eindrücklich, was es bedeutet, wenn das Hirn keine Filter kennt. Letzte Woche hat sie beim Elternabend der Erlebnisschule Frutigland Mütter und Väter zu Tränen gerührt.
RACHEL HONEGGER
Mit wachem Blick und warmem Lachen sitzt Linda Saurer zu Beginn des Elternabends in den Reihen der LehrerInnen. Nicht wenige Eltern denken, sie sei eine neue Lehrperson. Dass Linda Saurer Autistin ist, darauf würde wohl niemand kommen, wenn man sie sieht.
Und spätestens als sie aufsteht und die Eltern begrüsst, lösen sich im Publikum bestimmt die ersten Vorurteile betreffend Autismus in Luft auf. Lebendig, funkelnd, zugewandt – bestimmt keine Attribute, welche man dem Autismusspektrum zuordnet — erzählt Linda Saurer, wie es dazu kam, dass sie in Schulen über neurodivergente Kinder aufklärt.
Nicht nur sie selbst ist nämlich betroffen, auch ihre vier Kinder sind im Spektrum, einige besuchen die Regelschule, andere mittlerweile eine Privatschule. Oft hätte sie vor dem Elternabend einen Anruf bekommen, ob sie nicht den anderen Eltern erklären könnte, warum ihre Kinder anders funktionieren als die Norm. Was gut gemeint war von den Lehrpersonen, mit der Absicht, Verständnis zu schaffen, war für Linda Saurer zunehmend eine Belastung.
Autismus ist immer noch ein Stigma
«Wenn du da stehst und dich immer wieder erklären musst und die Reaktion darauf ist überfordertes Schweigen», das fühle sich an wie ein Vakuum: «Dieses Gefühl, wir passen nirgends dazu, wir sind zu viel und niemand weiss, wie mit uns umzugehen ist.»
Autistische Menschen seien noch immer mit einem Stigma behaftet, weil die Gesellschaft zu wenig informiert sei. Und das Thema sei oft mit einer gewissen Schwere verbunden.
Nach einem weiteren Elternabend und einer schlaflosen Nacht kam bei Linda Saurer deswegen der dringende Wunsch auf, diesem Missstand ein Ende zu setzen. Aufzuzeigen, wie autistische Menschen funktionieren. Dass dies keine Katastrophe sein muss. Weder für die Betroffenen noch für deren Angehörige noch für Lehrpersonen und Schulgspänli. Aber dass es dafür ganz viel Aufklärung braucht und Verständnis.
Und so fand sie auch den Weg in die Erlebnisschule Frutigland. Seit zwei Jahren ist diese nicht mehr nur Privatschule, sondern auch Teil der Volksschule, mit einem Angebot für besondere Volksschulkinder. «Das heisst, Kinder mit besonderen Bedürfnissen wurden aus dem Regelunterricht ihrer Wohnortschule herausgenommen und besuchen nun unser spezialisiertes Angebot, in dem wir gezielt auf ihre individuellen Bedürfnisse eingehen und eine unterstützende Lernumgebung schaffen», erklärt Anna Katharina Baumgartner, Schulleiterin der Erlebnisschule.
Die ganze Familie kam ans Limit
Und so besuchen nun auch einige Kinder im Autismusspektrum den Unterricht in Wengi. Teils werden sie sogar von Blumenstein ins Frutigland gefahren, wie zum Beispiel Luca. Er war im Kindergarten und die ersten zwei Schuljahre im Regelunterricht, bis seine Mutter, selbst Lehrerin, zusammen mit der Erziehungsberatung die Reissleine ziehen mussten. Luca ist zusätzlich hochbegabt und hat ein ADHS, die Schule wurde für ihn zur Qual. Nach dem ersten Schuljahr hatte er riesengrosse kahle Stellen am Kopf, so sehr habe er sich aufgerieben und aus dem inneren Stress in die Haare gegriffen, erzählt seine Mutter Bettina Zimmermann.
«Luca war so sehr von Reizen überflutet, er hatte keinerlei Ressourcen mehr, um nach der Schule noch etwas zu unternehmen.» Die Mutter erzählt, wie er jeweils nach dem Unterricht zu Hause in seinem Zimmer zwei Stunden lang wie ein eingesperrtes Tier von einer Wand zur anderen hin und her gerannt sei, nicht ansprechbar, um sich selbst zu regulieren. Luca hat zwei Geschwister, ein normaler Familienalltag lag nicht mehr drin. «Es drehte sich ständig alles um den Energielevel von Luca.»
Seit der dritten Klasse besucht Luca nun die Erlebnisschule. Obwohl er jetzt ein höheres Pensum besucht als noch an der Regelschule, sei er ausgeglichener, erträgt auch soziale Kontakte viel besser, kann wieder zusammen mit der Familie am Mittagstisch sitzen. «Er ist flexibler geworden, braucht nicht mehr so viel Vorinformation, was Abläufe betrifft. Und es liegt sogar wieder ein Familienausflug drin, selbst wenn er am Tag zuvor Schule hatte. Sowas war vorher undenkbar.»
Damit dies möglich wurde, so betonen sowohl Mutter Bettina Zimmermann wie auch Schulleiterin Anna Katharina Baumgartner, braucht es das Zusammenspiel zwischen Eltern, Lehr- und involvierter Fachpersonen.
Auch die MitschülerInnen werden miteinbezogen
Mit dem neuen Angebot der Erlebnisschule als besondere Volksschule gab es auch für die Lehrpersonen der Erlebnisschule gewisse Änderungen. Denn wenn immer möglich sind die besonderen Volksschulkinder im normalen Unterricht integriert. «Das gesamte Team und ich mussten uns innerhalb kürzester Zeit ein fundiertes Wissen über Autismus und neurodivergente Kinder aneignen», schildert Anna Katharina Baumgartner. «Wir informierten uns intensiv durch Fachliteratur, aber vor allem durch die wertvollen Erfahrungsberichte der Eltern – denn sie kennen ihre Kinder und deren Bedürfnisse am besten. Zusätzlich nahmen wir an mehreren Weiterbildungen zu diesem Thema teil.» So sei sie auf Linda Saurer gestossen. Saurer hat nicht nur das Team, sondern alle Kinder der Schule stufengerecht über Neurodivergenz aufgeklärt. Neurodivergenz bedeutet, dass Gehirnfunktionen und Informationsverarbeitung von der sogenannten gesellschaftlichen Norm abweichen. Dazu gehören neben Autismus auch ADHS, Legasthenie, Dyskalkulie aber auch Hochbegabung. Mehrere Kinder in der Erlebnisschule zählen zu einer dieser Gruppen. Deswegen, so Baumgartner, sei es ihr ein Herzensanliegen, dass die ganze «Erlebnisschul-Familie» versteht, wie das Gehirn neurodivergenter Menschen funktioniert und wie sie alle gemeinsam dazu beitragen können, deren Alltag ein kleines Stück leichter zu gestalten.
«PolizistInnen» halten Ungebetene ab
Linda Saurer hatte beim Elternabend in Wengi zwei selbst gebastelte Briefkästen dabei. Ein blauer symbolisiert das neurodivergente Hirn, also zum Beispiel ein autistisches; ein gelber ist mit Figürchen bestückt und steht für das neurotypische Hirn, also jenes, welches der Norm entspricht. Diese Figürchen symbolisieren den Reizfilter, welcher im neurotypischen Gehirn quasi zum Bauplan dazugehört, im autistischen Gehirn jedoch ersatzlos fehlt. Sie sind wie WächterInnen oder PolizistInnen – sie halten ungebeten Gäste ab. Beziehungsweise: Sie sortieren die Sinnes-Briefpost, welche von Augen, Ohren, Nase, Haut und Mund ans Hirn geschickt wird, erklärt Linda Saurer.
Anhand dieser Briefkasten erklärt Linda Saurer den SchülerInnen der Mittel- und Oberstufe, wie beispielsweise eine Busfahrt im Hirn verarbeitet wird. Zuerst vermittelt sie mit einem Plastikund einem gefilzten Hirn, wie dieses aufgebaut ist und wie Informationen verarbeitet werden. Danach kommen die Briefkästen zum Einsatz. «Beim neurotypischen Hirn kommen nur diejenigen Briefe rein, die wirklich relevant sind für die betreffende Situation, die wichtig sind und eine Reaktion auslösen müssen.» Anders sei dies beim blauen Briefkasten, also beim autistischen Hirn. Da komme jeder Sinnes-Brief ungefiltert hinein. «Wenn das ‹Zetteli› vom Pullover juckt. Wenn die Frau im Bus ein neues Parfum hat, und vieles mehr.» Das Herausfordernde dabei sei: Jeder dieser Briefe der Sinnes-Post wolle geöffnet und bearbeitet werden. «Die verschwinden nicht, jeder Reiz will seinen Raum bekommen und häufig sind da noch Briefe von über zwei Wochen präsent.»
Der überfüllte Briefkasten explodiert
Man kann sich vorstellen – wenn ein Briefkasten mit irrelevanter Briefpost nur so geflutet wird und diese auch noch mehrfach gelesen und sortiert werden will, dann ist er irgendwann nicht nur randvoll, sondern explodiert regelrecht. Für Aussenstehende mag so eine Briefkasten-Explosion beispielsweise wie ein Wutanfall wirken und stösst oft auf wenig Verständnis. Für die Betroffenen hingegen sei dies eine regelrechte Kernschmelze, so Saurer: ein Meltdown. Und damit sind meist alle Involvierten überfordert, hilf- und machtlos. Linda Saurer betont denn auch: «Es gibt keine Bedienungsanleitung. Es ist so heftig und die autistische Person in dem Moment in einer unglaublich grossen Not. Das Einzige, was man machen kann, ist emotional dabeibleiben. Sicherheit und Ruhe ausstrahlen, damit das Nervensystem des Kindes sich an der begleitenden Person co-regulieren kann.» Das brauche Zeit. «Ich sage den Eltern immer: In diesen Momenten nehmt den langsamen Weg, das ist der schnellste.»
Im Kindergarten und der Unterstufe wählt Saurer übrigens keine Briefkästen, sondern Schleich-Tiere zur Veranschaulichung. Es gibt das Bärenhirn und das Wolfshirn: Ein Bär mag und braucht manchmal seine Höhle und seine Ruhe, ein Wolf fühlt sich wohl im Rudel mit vielen anderen Wölfen. Beides sind wunderbare Tiere, jedoch brauchen sie unterschiedliche Dinge, damit es ihnen gut geht. Die Kinder erfahren durchs Spiel ganz viel über diese zwei Tier- beziehungsweise Menschenarten. Bärenmenschen und Wolfsmenschen können gut zusammenspielen, wenn der Bär die Gelegenheit hat, sich immer wieder zurückzuziehen.
Linda Saurers Erzählungen sind nicht nur deswegen so berührend, weil sie mit viel Fachwissen erklärt, sondern weil sie aus eigener Erfahrung berichtet. Am Elternabend liest sie eigene Texte vor, welche Einblick in ihr Erleben und das Erleben von betroffenen Kindern geben. Man taucht als ZuhörerIn in ein neurodivergentes Erfahren ein und kann vielleicht zum ersten Mal erahnen, wie es sich anfühlen muss, wenn das Hirn absolut keine Filter kennt. Und dass die Strategien wie Rückzug oder Explosion nicht bedeuten, dass diese Menschen «falsch» ticken, sondern der einzige Weg sein können, um diese Reizüberflutung überhaupt zu überleben.
Die «Bärenhöhle» bietet Ruhe
Für Schulleiterin Anna Katharina Baumgartner war es eine grosse Herausforderung, den Spagat zwischen der Privatschule und dem besonderen Volksschulangebot zu schaffen. «Die Eltern der Privatschule bezahlen Schulgeld, weil sie sich bewusst für unsere Schule entschieden haben – aus Überzeugung, dass ihr Kind hier bestmöglich und erlebnisorientiert gefördert wird. Gleichzeitig erwarten sie selbstverständlich eine ruhige Lernumgebung, in der ihre Kinder weder gestört noch durch herausforderndes Verhalten verunsichert werden.» Es sei ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle Kinder – unabhängig von ihren Bedürfnissen – in einer Umgebung lernen können, die ihnen gerecht werde. «Aus dieser Herausforderung heraus ist unser reizreduzierter Lernort die ‹Bärenhöhle› entstanden – eine Wohnung unterhalb des Schulhauses. Kinder, die im Schulhaus überreizt sind und Rückzug zum Regulieren benötigen, dürfen sich in der Bärenhöhle entfalten.»
Auch Luca startete letzten Sommer in der ‹Bärenhöhle›. Nach den schwierigen ersten zwei Jahren in der Regelschule war das der einzig gangbare Weg. Dank enger Begleitung und dem grossen Verständnis sowohl der Lehrpersonen als auch der anderen Schulkinder kann er nun jeden Tag bereits zwei Stunden lang die reguläre Klasse im Schulhaus besuchen.
«Luca geniesst dieses neue Leben. Und mir gibt es Hoffnung, dass man solch festgefahrene Situationen auflösen kann und dass autistische Kinder aus diesem Hamsterrad rausfinden. Wenn man sich für diese Kinder interessiert und schaut, wo ihre Grenzen sind und was trotz allem geht – dann ist plötzlich sehr viel möglich. Das ist es, was mich begeistert», erzählt Bettina Zimmermann. Wie viel tatsächlich möglich ist, zeigte sich, als die Weihnachtsaufführung letzten Dezember vor der Tür stand und Luca daran teilhaben konnte. Und letzte Woche war er mit der ganzen Klasse auf Schulreise in der Romandie.
Viele Eltern sind zu Tränen gerührt
Beeindruckend sei, wie die anderen SchülerInnen ihren neurodivergenten Gspänli begegnen, schildert Anna Katharina Baumgartner. «Sie helfen aktiv mit, eine möglichst reizarme Lernumgebung zu gestalten: Im Unterricht wird geflüstert, um die Lautstärke zu reduzieren, solidarisch tragen einige Kinder sogar freiwillig einen Gehörschutz.
In Krisensituationen unterstützen sie das betroffene Kind dabei, wieder Halt zu finden. Es ist sehr berührend zu beobachten, wie sich die Kinder durch diese Erfahrungen in ihrer Sozialkompetenz weiterentwickeln – mit Offenheit, Mitgefühl und einem tiefen Verständnis für die Bedürfnisse anderer.»
Es ist genau das, was Linda Saurer sich so sehr gewünscht hätte, wenn sie sich als Mutter beim Elternabend jeweils so alleingelassen gefühlt hat. Auch an der Erlebnisschule gelinge Inklusion nicht immer, ordnet Anna Katharina Baumgartner ein. «Aber wenn sie gelingt, kann sie für die betroffenen Kinder und ihre Familien einen oft steinigen Weg deutlich erleichtern. Es berührt uns jedes Mal zutiefst, wenn wir dazu beitragen können. Wenn Inklusion gelingt, wissen wir: Jeder Aufwand, jede Hürde, jedes Umdenken hat sich gelohnt!»
Und der Blick in die Runde der Eltern beim Elternabend in Wengi zeigt: Linda Saurer hat nicht nur Verständnis geweckt, sondern viele der Anwesenden zu Tränen gerührt.