Das ganze Repertoire aufgefahren
11.06.2024 KanderstegDie Gemeindeversammlung am Freitagabend dauerte nicht nur länger als gedacht – sie war auch ein Musterbeispiel dafür, was die direkte Demokratie alles zu bieten hat.
BIANCA HÜSING
Peter Stoller wurde nicht geschont. Für den noch relativ ...
Die Gemeindeversammlung am Freitagabend dauerte nicht nur länger als gedacht – sie war auch ein Musterbeispiel dafür, was die direkte Demokratie alles zu bieten hat.
BIANCA HÜSING
Peter Stoller wurde nicht geschont. Für den noch relativ neuen Gemeindepräsidenten erwies sich der Freitagabend als Feuerprobe par excellence. Während die Gemeindeversammlungen ringsum schnell und diskussionslos über die Bühne gingen, wurde in Kandersteg fast das gesamte Repertoire der Schweizer Demokratie aufgefahren: Änderungsund Rückweisungsanträge, doppelte und geheime Abstimmung – und jede Menge Wortbeiträge. Mehrmals musste unterbrochen werden, damit sich die Verantwortlichen in diesem Dickicht zurechtfinden und das weitere Vorgehen festlegen konnten. Wer zwischendurch in die Gesichter der 124 Stimmberechtigten blickte, erkannte alle möglichen Regungen zwischen Entschlossenheit, Belustigung und wachsender Ungeduld.
«Relativ verwirrliche Anträge»
Schon die vermeintlich harmlose Änderung des Personalreglements enthielt manch ungeahnten Stolperstein. Der Hauptzweck dieses Antrags bestand darin, den Behördenmitgliedern eine angemessene Entschädigung auszurichten. Diese sollte sich künftig an den kantonalen Gehaltsklassen orientieren, was mit einer leichten Erhöhung und einem regelmässigen Teuerungsausgleich einhergegangen wäre. Das allein schien unbestritten, doch mit der Detailausgestaltung waren nicht alle BürgerInnen zufrieden. Einer stiess sich daran, dass der Vizepräsident des Gemeinderates einer tieferen Gehaltsklasse zugewiesen werden soll als der Gemeinderatspräsident und beantragte deren Gleichstellung. Ungleich komplizierter war der Antrag eines weiteren Bürgers: Die Entschädigung für Verwaltungsratsmandate, die ein Gemeinderat von Amtes wegen ausübt, solle künftig nicht mehr an das betreffende Ratsmitglied selbst, sondern in die Gemeindekasse fliessen. Im Gegenzug sollten die Entschädigungen der Gemeinderäte um gewisse Prozentpunkte angehoben werden. Nach einer längeren Beratungspause meldete sich Obmann René Maeder zu Wort und verkündete den Rückzug des Geschäfts. Die «relativ verwirrlichen Anträge» seien auf die Schnelle nicht umzusetzen. Der Gemeinderat werde das Personalreglement noch einmal unter Berücksichtigung dieser Inputs überarbeiten und im November zur Abstimmung vorlegen.
Fehlt ein roter Faden?
Schon das erste inhaltliche Geschäft nach der Jahresrechnung 2023 nahm also mehr Zeit in Anspruch als üblich. Dass es beim nachfolgenden Traktandum noch lebhafter zugehen würde, war spätestens seit diesem Abend absehbar. Vor dem Eingang des Gemeindehauses hatte eine «Gruppe engagierter Kandersteger Bürger» (Selbstbezeichnung) Flugblätter gegen die geplante Neugestaltung des Dorfplatzes verteilt. Ihre Hauptkritikpunkte: Das Projekt sei unausgegoren, es fehle ein Gesamtkonzept mit «rotem Faden» für alle öffentlichen Plätze. Zudem hätten sich die KritikerInnen mehr Mitwirkungsmöglichkeiten gewünscht und hielten die Sanierung des Schulhausplatzes für dringender. Wie sie später in der Diskussion betonten, seien sie nicht gegen das Vorhaben als solches. Sie forderten lediglich dessen Überarbeitung unter Einbezug der Bevölkerung (und allenfalls eines Projektwettbewerbs) sowie unter Berechnung der jährlichen Unterhaltskosten. Bevor dieser Antrag behandelt wurde, folgten leidenschaftliche Voten für und gegen die Sanierung.
Mehrere Gemeinderäte verteidigten ihr Konzept und wurden dabei unter anderem von Exponenten der Tourismusbranche unterstützt. Ratspräsident Maeder erinnerte daran, dass man die Bevölkerung mehrfach vergeblich zur Mitsprache aufgerufen habe. Über die Detailplanung könne man ohnehin noch reden: «Es geht heute nur um den Grundsatz, dass der Platz umgestaltet wird. Wie das konkret passiert, wird in der zuständigen Kommission beraten. Das Projekt jetzt zurückzuweisen, wäre eine verpasste Chance.» Auch verwahrte sich Maeder dagegen, Dorf- und Schulhausplatz gegeneinander auszuspielen, da Letzterer ebenfalls bereits in Planung sei.
Kompliziertes Abstimmungsprozedere
Theoretisch hätte man nun zur Abstimmung schreiten können, doch zwei zusätzliche Anträge verkomplizierten das Prozedere erheblich. Ein Bürger beantragte, über den barrierefreien Neubau der WC-Anlage separat abzustimmen.
Dieser sei offenbar unbestritten und solle durch eine allfällige Rückweisung des Gesamtprojekts nicht gefährdet werden. Allein die Beratung darüber, ob dieser Antrag vor, nach oder zeitgleich mit dem Rückweisungsantrag behandelt werden müsste, dauerte ihre Zeit. Hinzu kam, dass die Projektkritiker eine geheime Abstimmung beantragten – worüber ebenfalls abgestimmt werden musste. Da beim ersten Mal die nötige Viertelmehrheit punktgenau erreicht wurde (31 von 124 Stimmberechtigten), wollte Gemeindepräsident Peter Stoller auf Nummer sicher gehen und liess die Abstimmung wiederholen. Diesmal sprachen sich 34 BürgerInnen für die geheime Abstimmung aus. Nach eingehender Beratung wurden die Stimmzettel schliesslich verteilt und wieder eingesammelt. Das Ergebnis: Der Rückweisungsantrag wurde mit 90 zu 30 Stimmen abgelehnt. Angesichts dieses deutlichen Votums wurde der Antrag auf separate Abstimmung zur WC-Anlage zurückgezogen. Am Ende
sprach sich schliesslich die Mehrheit für die Sanierung des Gemeindehausplatzes aus und genehmigte den Kredit in Höhe von 350 000 Franken. René Maeder bedankte sich, lobte aber auch den Mut der GegnerInnen, von ihren demokratischen Rechten Gebrauch zu machen. «Ich versichere euch, dass eure Voten miteinbezogen werden.»
NNSK-Beitrag im Schnelldurchlauf
Es ging bereits auf 23 Uhr zu, als die Krediterhöhung für die allgemeine Entwässerungsplanung (+200 000 Franken) und der Betriebsbeitrag an die Nordic Arena (45 000 Franken pro Jahr bis 2029) an die Reihe kamen. Beide Anträge wurden im Schnelldurchlauf abgehandelt und mit grossen Mehrheiten angenommen. Nationalrätin und NNSK-Verwaltungsrätin Andrea Zryd, die extra für ein Statement zugunsten der Nordic Arena angereist war, fasste sich entsprechend kurz. Im «Verschiedenen» informierte Gemeinderätin Vreni Packmor über zusätzliche Kinderbetreuungsmöglichkeiten und über die Gründung des neuen Familienvereins, dessen Initiant sich ebenfalls kurz vorstellte. Die unter der Hand angekündigte Grossdebatte über die neue Luftseilbahn blieb aus. Angesichts der vorgerückten Zeit hatten wohl auch die Kritiker dieses Projekts nicht mehr die Nerven, das Thema aufzurollen.
Um 23.12 Uhr konnte Peter Stoller schliesslich die erste von ihm geleitete Versammlung schliessen. Möglicherweise fühlte er sich ein wenig an das Jahr 2009 erinnert, als er – damals in der Funktion des Ratspräsidenten – für den Umbau des Kongresssaals weibelte. Erst war das Geschäft abgelehnt worden, anschliessend nahmen die BürgerInnen nur die Kleinstvariante des Projekts an – und bewilligten der Nordic Arena dann dreimal mehr Geld als vom Gemeinderat vorgesehen.
Weitere Infos zur Versammlung und zum Familienverein finden Sie unter www.frutiglaender.ch (Web-Links).