Das WC-Papier in der Engstlige
17.09.2024 RegionDass in unseren Bächen sauberes Wasser fliesst, ist (fast) eine Selbstverständlichkeit. Das war lange nicht so und ist nur mithilfe moderner Kläranlagen möglich. Die ersten wurden im Frutigland vor gut 50 Jahren erstellt.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Dass in unseren Bächen sauberes Wasser fliesst, ist (fast) eine Selbstverständlichkeit. Das war lange nicht so und ist nur mithilfe moderner Kläranlagen möglich. Die ersten wurden im Frutigland vor gut 50 Jahren erstellt.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Abwasserreinigungsanlagen sind nicht gerade als optisch attraktive Bauten bekannt und selten ein Anziehungspunkt in einer Gemeinde. Zudem sind unappetitliche Gerüche nicht immer zu vermeiden. Dabei haben die Anlagen eine immens wichtige Funktion im heutigen Leben und sind Teil der modernen Infrastruktur, die zuverlässig funktionieren muss. In Frutigen wurde die Abwasserreinigungsanlage Kanderspitz 1974 erstellt respektive dem Betrieb übergeben. Davon zeugt ein Inserat aus dem «Frutiger Anzeiger», in dem der damalige Gemeinderat und die Betriebskommission ARA zu zwei Tagen der offenen Türen am 21. und 22. September 1974 einluden. Heute hat Frutigen neben der auf 11 000 Einwohner ausgelegten Anlage im Kanderspitz noch drei dezentrale Kleinkläranlagen im Elsigbach, an Rinderwald und Ladholz.
Die Reichenbacher waren schnell
Eine Nachfrage bei den Gemeindeverwaltungen ergibt, dass auch die ARA Kandersteg vor 50 Jahren erbaut wurde. Adelboden hat seit 1980 eine gemeindeeigene Reinigungsanlage, während in Kandergrund unter dem Bühl eine Kleinanlage besteht, der Grossteil aber an Frutigen angeschlossen wurde. Die Schnellsten waren die Reichenbacher: Bereits 1968 ging die Anlage in Mülenen (für das Dorf) ans Netz, 1984 folgte jene im Kiental. Heute sind Reichenbach-Dorf, Aeschi und Krattigen sowie 33 andere Oberländer Gemeinden an der «ARA Thunersee» in Uetendorf angehängt.
Äusserst selten hört man, dass die Kläranlagen nicht funktionieren würden und beispielsweise die nach Unwettern anfallenden grossen Mengen an verschmutztem Wasser wie früher ungereinigt in die Fliessgewässer abgelassen werden müssten. Regen- und Oberflächenwasser («Sauberwasser») in Siedlungsgebieten wird zudem zunehmend in einem getrennten System gefasst und gar nicht mehr in die ARA geleitet. Die Finanzierung des ganzen Systems erfolgt über die kommunalen Abwassergebühren.
Baden mit Überraschungen
Heute ist Umweltschutz richtigerweise ein Dauerthema und sind Schadstoffgrenzwerte für alle möglichen Stoffe festgelegt. Doch wie war das vor dem Bau der Kläranlagen? Davon kann Andreas Wäfler erzählen, langjähriger Lehrer und Gemeindepolitiker in Frutigen, der im Schulhaus Rinderwald aufgewachsen ist. Dieses hatte wie viele Gebäude einen «Bschüttikasten», die Plumpsklos gleich darüber. Die menschlichen Ausscheidungen wurden als Dünger auf die Felder oder auch ins Gemüsebeet gebracht. Wenn er und seine Kollegen als Jugendliche in der Engstlige badeten, schwammen Klopapier – oftmals bloss Zeitungspapier – und allerlei Unrat aus dem Engstligtal vorbei. Später wurden für neue Häuser Zweioder Dreikammer-Gruben verlangt, in denen sich der feste Inhalt absetzen konnte. Das Abwasser wurde so vor der Einleitung in die Engstlige oder Kander vergleichsweise gut gereinigt und die Reststoffe konnten weiter als Dünger verwendet werden.
Der Tag der Metzger
Der Inhalt der Güllekästen und Sickergruben wurde vor dem Bau der Kanalisationsleitungen im eigenen Landwirtschaftsbetrieb entsorgt oder die Landwirte holten die Fäkalien aus den Siedlungen ab. Etappenweise wurden Kanalisationen erstellt, die jedoch anfangs immer noch direkt in die Fliessgewässer führten. Das bestätigt Hans Egli, der für die Kulturgutstiftung Frutigland mehrere Publikationen zu historischen Themen veröffentlicht hat. Aktuell arbeitet er an einem Buch über den Dorfbrand von 1827 und den Wiederaufbau von Frutigen. «Kanalisationen waren damals noch kein Thema», sagt er. Diese wurden definitiv erst später gebaut und mündeten direkt in die Bäche. Egli erzählt spontan, wie in seiner Schulzeit während der 1950er-Jahre jeweils montags die Kanalisation blutrot gefärbtes Abwasser in die Engstlige führte, wenn die Metzger geschlachtet hatten. «Aus biologischer Sicht war das unproblematisch, ebenso wie die menschlichen Fäkalien – aber es stank und war einfach grusig», sagt der Chemiker.
Neu ist nicht immer besser
Andreas Wäfler erinnert sich im Gespräch auch daran, was nach der Inbetriebnahme der Frutiger Kläranlage als Fortschritt angepriesen wurde: Der Klärschlamm kam neben der Gülle aus den Ställen auf die Wiesen, ein sehr konzentrierter Dünger. Bis an Mäggisseren oder an Höchst wurde dieser gebracht und verteilt, schliesslich hatte man für die Abnahme des Konzentrats bezahlt. Doch im Schlamm fanden sich neben den Nährstoffen auch Abfall wie Wattestäbchen oder Kondome. Dass diese dann auf den Alpwiesen lagen, war weniger angenehm und zunehmend umstritten. Schliesslich wurde ab dem 30. September 2006 das Austragen von Klärschlamm auf die Felder ganz verboten und die Trocknung und Verbrennung vorgeschrieben. Heutzutage wird zudem in Kläranlagen oftmals durch Vergärung des Schlamms noch Strom und Wärme erzeugt.
Entwicklung der Kläranlagen
Die Geschichte der Abwasserreinigung beginnt mit den (gesundheitlichen) Zuständen in den Städten im Mittelalter. Der erste Schritt zu deren Verbesserung war die geordnete Ableitung aus den Siedlungen in die Fliessgewässer durch Kanäle. Die Behandlung – also Reinigung – begann mit der ersten mechanisch-biologischen Kläranlage 1917 in St. Gallen. Der Wirtschaftsaufschwung der 1950er- und 1960er-Jahre führte zu einer Verschlechterung der Wasserqualität. Badeverbote für Seen waren an der Tagesordnung. 1953 ergänzte deshalb ein Gewässerschutzartikel die Bundesverfassung. In der Folge begann der Bau zahlreicher Kläranlagen. Bis 1965 waren 14 Prozent der Schweizer-Innen an eine zentrale Kläranlage angeschlossen. 2005 waren es fast 97 Prozent. In den 1980er-Jahren wurde eine weitere Reinigungsstufe in den Anlagen realisiert, die vor allem den Phosphatanteil aus dem Düngereinsatz reduzieren sollte. Insgesamt werden in der Schweiz gemäss dem Verband Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute (wasser-wissen.ch) 1,35 Milliarden Kubikmeter Abwasser pro Jahr gereinigt. Das öffentliche Kanalisationsnetz umfasst rund 60 000 Kilometer, und es bestehen etwa 750 Kläranlagen. Zwei Drittel davon sind kleine und kleinste Anlagen, die aber nur etwa 8 Prozent der anfallenden Menge reinigen. Für den Bau dieser ganzen Infrastruktur wurden bisher an die 50 Milliarden Franken investiert. Neuerdings geht man davon aus, dass etliche Anlagen geschlossen werden, da durch eine zusätzliche vierte Reinigungsstufe der (finanzielle) Aufwand gross wird und Grossanlagen effizienter und besser reinigen. Diese neue Klärstufe soll die Abwasser insbesondere von Medikamentenresten, Pestiziden und Mikroplastik säubern.
Was passiert mit stillgelegten Kläranlagen? In der aktuellen Ausgabe des Magazins des Schweizer Heimatschutzes wird beispielsweise aufgezeigt, dass eine Fischzucht (Erstfeld UR) oder Natur- und Erlebnisweiher (Reinach BL) realisiert werden konnten.
HSF