Der hochmusikalische Überflieger
28.03.2023 SportSPORTGESCHICHTE Ab dem 30. März findet im slowenischen Planica der Weltcupfinal im Skisprung statt – dort, wo der Schweizer Fritz Tschannen vor 75 Jahren einen Weltrekord aufstellte. Der Vielbegabte stammte eigentlich aus dem Jura, hinterliess aber auch im Frutigland seine ...
SPORTGESCHICHTE Ab dem 30. März findet im slowenischen Planica der Weltcupfinal im Skisprung statt – dort, wo der Schweizer Fritz Tschannen vor 75 Jahren einen Weltrekord aufstellte. Der Vielbegabte stammte eigentlich aus dem Jura, hinterliess aber auch im Frutigland seine Spuren.
HANS HEIMANN
Der 1920 in Saint-Imier geborene Fritz Tschannen war ein Hansdampf in allen Gassen. Im Alter von fünf Jahren bekam er seine erste Handharmonika geschenkt. Schon als Achtjähriger gab er sein erstes Akkordeonkonzert als Solist, zehn Jahre später erteilte er Musikunterricht. Er wurde Kapellmeister, Dirigent, Komponist, Arrangeur – aber auch Skischulleiter und Nationaltrainer. Mit seiner jodelnden Gattin Marili bereiste Tschannen die Welt und trat sogar im New Yorker Hotel Waldorf Astoria auf.
So virtuos er sich auf der Tastatur vieler Instrumente bewegte, so gekonnt beherrschte Tschannen den Skisprung. Zwar war er auch Segel- und Motorflieger, in die Sportgeschichte ging er aber mit einem Flug von der Schanze ein.
Das Fliegen lag der Familie wohl in den Genen, denn sein Vater war jurassischer Skisprungmeister und sein Sohn sollte Fritz Tschannen später sogar noch übertreffen und zum erfolgreichsten Skispringer seiner Zeit werden.
Adelboden, das Skisprung-Dorf
Wer heute im Frutigland von Skispringen redet, denkt wohl zuerst an Kandersteg. Doch Anfang des letzten Jahrhunderts hatte sich Adelboden zum Mekka des Skispringens gemausert. 1921 organsierte der Skiclub Adelboden die Schweizermeisterschaft. Es war die Zeit der fünf Gebrüder Schmid, die mehrere Schweizermeistertitel einheimsten. Ihnen folgte Willy Klopfenstein, der als 13-Jähriger bereits über 40 Meter weit sprang und 1949 Schweizermeister wurde.
In den folgenden Jahren festigte Adelboden seinen Ruf als Springerdorf. Plötzlich tauchte dort ein grosser Athlet aus dem Jura auf: Fritz Tschannen, der noch seinen ebenso musikalisch talentierten Bruder Ernst mitbrachte. Warum genau die beiden ins Lohnerdorf kamen, ist nicht bekannt, aber Markus Allenbach, langjähriger Sekretär und technischer Leiter des Skiclubs, fand im Vereinsarchiv dessen Beitrittsjahr: «Fritz Tschannen war von 1944 an aktives Mitglied unseres Skiclubs und danach Ehrenmitglied bis zu seinem Tod am 23. März 2011.»
Allenbach kann sich vorstellen, dass Tschannen wohl sein Hobby und seinen Beruf miteinander verbinden wollte. Tagsüber trainierte er auf der Lohnerschanze, abends machte er mit seinem Bruder Musik in den Adelbodner Hotels. Fritz Tschannen, in der Zwischenzeit Mitglied der Schweizer Skisprung-Nationalmannschaft, wurde 1948 Schweizermeister und belegte an den Olympischen Spielen des gleichen Jahres in St. Moritz als bester Mitteleuropäer den neunten Rang.
Im selben Jahr stellte Tschannen in Planica mit 120 Metern den Skiflugweltrekord auf der «Bloudkova velikanka», der damals grössten Schanze der Welt, auf. Das ehemals jugoslawische Skisprungzentrum ist noch heute Austragungsort grosser Wettbewerbe (siehe auch Kasten unten rechts). Vom 21. Februar bis 5. März fanden dort die 54. Nordischen Skiweltmeisterschaften statt. Ab Donnerstag wird Planica Austragungsort des FIS-Skisprung-Weltcupfinals sein.
Musiker und Trainer im Ausland
Nach seinen sportlichen Erfolgen wurde man auch in Übersee auf den Schweizer Skispringer aufmerksam und er wurde angefragt, das amerikanische Team zu trainieren. Doch wegen des Koreakriegs erhielt Tschannen in den USA keine Arbeitserlaubnis, also zog er weiter nach Kanada. Statt Skispringer auszubilden, wurde der Jurassier Radiomusiker, Akkordeonlehrer – und hatte sogar seine eigene Fernsehsendung: «La Suisse qui chante».
Trotzdem blieb er dem Skisport treu und führte unter anderem die kanadische Rennläuferin Anne Heggtveit 1960 an den Olympischen Spiele von Squaw Valley (USA) zu einem überlegenen Olympiasieg im Slalom.
Zurück in der Heimat
1964 kehrte Tschannen in die Schweiz zurück. In Bex (VD) gründete er ein privates Konservatorium und wurde zum Direktor der «Union Instrumentale de Bex» ernannt. Mit diesem Blasorchester errang Tschannen 1974 am Kantonswettbewerb in Mézières den 3. Platz in der ersten Stärkeklasse. Daneben arbeitete er für kurze Zeit als Sportsekretär in Arosa, wo er mit der Unterstützung von Hans Danuser ein Skisprungzentrum ins Leben rief.
Im Jahr 1980 bat ihn der Direktor des Konservatoriums von Sion, eine Akkordeonklasse zu gründen. 1990 begann er, die «Union instrumentale de Delémont» zu dirigieren. Neun Jahre später, mit fast 80 Jahren, zog er sich von diesen Posten zurück, gab aber weiterhin Musikunterricht und dirigierte. Er schrieb verschiedene Musikstücke, vertonte Gedichte und war weiterhin selbst als Musiker aktiv.
2011 starb Fritz Tschannen in Val-de-Travers im Kanton Neuenburg, wo er die letzten Jahre gelebt hatte. Er wurde 90 Jahre alt.
Männer mit wedelnden Armen
Die «Schweizer Filmwochenschau» berichtete 1948 in einem kurzen Beitrag über den Erfolg von Fritz Tschannen. «Auf der berühmten Sprungschanze von Planica in Jugoslawien wurden dieses Jahr neue Rekorde gesprungen», kommentiert der Sprecher die Schwarz-Weiss-Bilder. Von 232 ausgeführten Sprüngen seien 59 über 100 Meter weit gewesen. Auch Tschannens 120-Meter-Siegessprung wurde festgehalten. Die Aufnahmen dokumentieren, wie anders das damalige Skispringen war. Eine Anlaufspur sucht man auf der «Bloudkova velikanka» vergeblich. Mit wedelnden Armen, die Ski parallel geführt, segeln Mütze tragende Männer zu Tal. Unter solchen Bedingungen sind 120 Meter eine beachtliche Weite.
Die 1934 eröffnete Bloudek-Grossschanze, benannt nach ihrem Erbauer, dem Stararchitekten Stanko Bloudek, ist noch heute in Betrieb. Allerdings wurde sie 2011 / 2012 komplett umgebaut und entspricht heute den modernen Anforderungen des Skisprungsports. Der aktuelle Schanzenrekord liegt bei 142 Metern, aufgestellt vom slowenischen Olympiasieger Peter Prevc im März 2014.
POL
Den Ausschnitt aus der «Schweizer Filmwochenschau» haben wir im Bereich Web-Links hinterlegt: www.frutiglaender.ch
Fritz Tschannen und Lorenz Giovanelli
Der Frutiger Lorenz Giovanelli ist vor allem als Ländlermusikant bekannt, bis heute werden in der ganzen Schweiz seine Stücke gespielt. Ähnlich wie Fritz Tschannen war aber auch Giovanelli vielseitig interessiert. So wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren das Skispringen zu seinem grossen Hobby. Zwar sprang Giovanelli nicht selbst vom Schanzentisch, aber er amtete als Sprungrichter. In dieser Funktion arbeitete er sich bis ganz nach oben und legte schliesslich die Prüfung als FIS-Sprungrichter ab. So hatten Fritz Tschannen und Lorenz Giovanelli gleich zwei Leidenschaften gemeinsam.
POL
Das grosse Foto oben stammt von der Internetseite lorenz-giovanelli.ch, die sich dem musikalischen Schaffen und dem Lebenswerk des Frutigers widmet. Die Aufnahme findet sich auch in dem Buch «Lorenz Giovanelli – En Urchiga us em Frutigtal» von Renate Rubin, erschienen im Weber-Verlag (siehe Buchcover rechts).