«Der Konflikt ist für mich ein emotionaler Schüttelbecher»
10.11.2023 Frutigen, TourismusAdrian Furrer betreibt zusammen mit seinem Vater Faustus Furrer seit vielen Jahren das Reisebüro Mideast Tours mit Schwerpunkt Israel und Naher Osten. Wie erlebt der Frutiger die aktuelle Eskalation des dortigen Konflikts?
RETO KOLLER, YVONNE BALDININI
Vier ...
Adrian Furrer betreibt zusammen mit seinem Vater Faustus Furrer seit vielen Jahren das Reisebüro Mideast Tours mit Schwerpunkt Israel und Naher Osten. Wie erlebt der Frutiger die aktuelle Eskalation des dortigen Konflikts?
RETO KOLLER, YVONNE BALDININI
Vier Monate verbringt Adrian Furrer pro Jahr in Israel, auch als Exkursionsleiter in einem geistlichen Ausbildungszentrum in Jerusalem. Der gelernte Kaufmann und Theologe berichtet auf Anfrage des «Frutigländers» von seiner Zerrissenheit zwischen den Welten Israels und Palästinas, die ihm beide nahestehen.
Adrian Furrer, Sie bereisen Israel und Palästina seit vielen Jahren und haben Freunde auf beiden Seiten. Was schmerzt sie im ausgebrochenen Konflikt am meisten?
Die Lage im Nahen Osten trifft mich doppelt. Unser Reisebüro erzielt etwa 80 Prozent des Umsatzes in dieser Weltregion. Bis jetzt mussten wir drei Gruppenreisen stornieren. Durch die jahrelangen Beziehungen mit israelischen Geschäftspartnern und palästinensischen Mitarbeitern sind enge Freundschaften entstanden. Wir kennen ihre Schicksale. Es schmerzt mich sehr, dass sich beide Parteien nun in einem unheilvollen Konflikt befinden.
Israel-Reisen beschränken sich oft auf den Besuch der christlichen Stätten, die häufig in palästinensisch verwalteten Gebieten liegen. Lassen Sie auf Ihren Touren auch die Sicht der arabischen Bevölkerung einfliessen?
Unsere Reisen sollen den TeilnehmerInnen sowohl israelische als auch palästinensische Standpunkte näherbringen. Wir begegnen Menschen von beiden Seiten und hören sie an. Die Meinungsbildung liegt beim Reisenden.
Wo und unter welchen Umständen leben die Palästinenser in Israel?
Wir unterscheiden drei Kategorien. Die einen leben im Westjordanland, die anderen im Gazastreifen. Die dritte Kategorie sind die Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Jede Gruppe macht je etwa ein Drittel der palästinensischen Bevölkerung aus. Ungefähr 20 Prozent der israelischen Gesamtbevölkerung sind Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit. Wir haben Kontakte mit diesen israelischen Arabern, genauso wie mit Palästinensern ohne Staatsangehörigkeit, die sich nur innerhalb des Westjordanlands bewegen dürfen. Ihnen ist der Besuch des israelischen Stammlandes nur in Ausnahmefällen gestattet, z.B. mit einer Arbeitsbewilligung. Der Gazastreifen war immer schon abgeriegelt, dort ist kein touristisches Angebot möglich.
Kennen Sie Menschen aus Gaza?
Ja, ich kenne Leute, die aus Gaza geflüchtet sind. Gestern rief mich ein Bekannter an, der heute in Berlin lebt. Seine Eltern sind in Gaza. Sie leiden grosse Not.
Wie können Sie helfen?
Ich sehe meine Aufgabe darin, keine radikalen Positionen einzunehmen. Sie fördern Hass und verhindern zukünftige Beziehungen. Deshalb unterstützen wir punktuell auch gemeinsam mit unseren Kunden Familien auf beiden Seiten. Zudem wird gerade der Tourismus in Zukunft wichtig sein. Denn kein Erwerbszweig verbindet Juden und Palästinenser so stark wie die Reisebranche. Viele Palästinenser sind in Hotels oder als Busfahrer tätig, oft Seite an Seite mit Israelis.
Sie sprachen von den drei etwa gleich grossen Palästinensergruppen innerhalb Israels. Wie reagieren diese auf die Gewalt, die zurzeit herrscht?
Darüber spricht man in der Öffentlichkeit oft nicht. Gabi, ein palästinensischer Israeli, ist ein Freund von mir. Er – und mit ihm die überwiegende Mehrheit dieser Gruppe – will weder in die Westbank noch in den Gazastreifen zurückkehren. Es ist seine Überzeugung, dass der Staat Israel den Menschen eine Perspektive bietet, auch wenn sie nicht alle politischen Freiheiten geniessen. Gabi schrieb mir: «Wir müssen die Sicherheitskräfte Israels unterstützen und mit seinen Bürgern einiggehen. Israel ist der einzige Staat, der unseren Kindern eine Ausbildung ermöglicht und ihnen ein würdevolles Leben in diesem verrotteten Nahen Osten verspricht.» Ein anderer Freund, Mohammed, hat keinen israelischen Pass. Seine Sichtweise ist völlig entgegengesetzt. Er leidet unter der israelischen Besatzung des Westjordanlands und steht im ausgebrochenen Konflikt voll hinter der Hamas, mit der auch viele andere Bewohner sympathisieren. Die geplagte Bevölkerung im Gazastreifen befürwortet zwar vordergründig die Position der Hamas. Hinter vorgehaltener Hand kritisieren viele die Terror-Organisation jedoch scharf, weil es ihnen unter der fast vollständigen Abschnürung der Region schlecht ergeht.
Sie stehen also zwischen allen Fronten …
Das kann man so sagen. Ich erhalte Bilder von meinem Freund Yaron, der als Angehöriger der israelischen Armee im Krieg ist. Ein befreundeter Pastor schreibt mit, er habe seinen Sohn verloren. Mohammed schickt ein WhatsApp mit Bildern der Zerstörungen, welche die unentwegten israelischen Bombenangriffe in Gaza anrichten. Er arbeitet in einem Hotel in Jericho und war noch nie in Jerusalem, weil er die Westbank nicht verlassen darf. Kein Wunder, dass er sich gegen die israelische Regierung stellt. Ich telefonierte am 7. Oktober (dem Tag des Kriegsausbruches, Anm. d. Red.), mit einem engen israelischen Mitarbeiter und Freund. Der Vater von drei Kindern unterbrach den Anruf und meldete sich kurz darauf weinend wieder: Er hatte das Aufgebot zum militärischen Einsatz erhalten und musste sich noch gleichentags in seinem Stützpunkt beim Gazastreifen einfinden. Beide Seiten schicken mir ständig Videos. Der eine will beweisen, dass alle israelischen Nachrichten nur Fake News sind, der andere präsentiert sich auf seinem israelischen Kampfpanzer. Ich muss meine Antworten sehr vorsichtig und diplomatisch formulieren: ein wahrer Eiertanz. Der Konflikt ist für mich ein emotionaler Schüttelbecher, mit dem ich mich sehr schwertue.
Wie wirkt sich der Krieg auf das Zusammenleben der Menschen aus?
Der gegenseitige Hass und das Misstrauen sind massiv gestiegen.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Joel ist ein israelischer Freund von mir. Er wohnt in einem Kibbuz nahe der libanesischen Grenze. Eines Morgens klingelte sein Handy. Eine Stimme in Arabisch gefärbtem Hebräisch bat ihn, das Tor zum Kibbuz zu öffnen. Joel erschrak zutiefst, und seine Hände zitterten. Drohte ein Anschlag? Da fiel ihm ein, dass er Holz bei einem arabischen Mann bestellt hatte. Der Lieferant wollte es abladen. Trotzdem nahm Joel die Pistole mit, als er zum Tor schritt. Der Holzhändler umarmte ihn freundschaftlich und lud sein Fuder ab. Das zeigt das abgrundtiefe und in den meisten Fällen unberechtigte Misstrauen zwischen Nachbarn, mit denen man bis zum 6. Oktober noch freundschaftliche oder geschäftliche Beziehungen pflegte.»
Sehen Sie eine Lösung, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen könnte?
Darüber nachzudenken, macht mich traurig, denn ich sehe sie nicht. Die Fronten sind derart verhärtet, dass ein friedliches Zusammenleben so weit entfernt ist wie kaum jemals zuvor. Der Zweistaatenlösung steht der grösstenteils illegale Siedlungsbau der Israelis im Westjordanland entgegen. Mittlerweile leben dort rund 700 000 jüdische Siedler mitten im palästinensischen Gebiet. Was soll mit dem Gazastreifen geschehen, wenn die Kämpfer der Hamas besiegt sind? Niemand scheint dafür einen realistischen Plan zu haben.
Sie verbrachten diesen Sommer zwei Monate in Israel, dies im Rahmen ihrer Tätigkeit als Begleiter einer theologischen Ausbildung von jungen Menschen. Wie haben Sie die Stimmung im Land empfunden?
Wir studieren vor Ort den Islam, das Judentum und wir besuchen die christlichen Stätten. Unser Logis in Jerusalem liegt in unmittelbarer Nähe des ultraorthodoxen jüdischen Viertels und der von Arabern bewohnten Zone. Die angespannte, immer unversöhnlicher werdende Stimmung war nicht zu übersehen. Nachrichten von Anschlägen jüdischer Siedler auf palästinensische Dörfer und Attacken von Palästinensern auf Juden häuften sich. Das tägliche Leben war davon allerdings nicht direkt betroffen, doch ich war nicht überrascht, als die Hamas zuschlug. Erstaunlich war die unglaubliche Brutalität ihres Vorgehens.
Ist dieses Ausbildungsprogramm nun gefährdet?
Es ist in Israel für den Sommer 2024 infrage gestellt. Wir haben uns entschieden, das Programm vorläufig in Griechenland anzubieten. Auch dort treffen sich arabische, jüdische und christliche Kulturen.
Wie können Sie sich wirtschaftlich über Wasser halten?
Ich bin zu 50 Prozent als Pastor bei einer Freikirche angestellt. Das gibt mir eine gewisse Sicherheit. Die Reisen von Mideast Tours werden wir wohl etwas anpassen, um die Abhängigkeit vom Nahen Osten zu verringern. Ansonsten zählen die Kartoffeln, die ich im Keller habe, nicht die, welche noch im Boden schlummern. Ich mache mir um meine Existenz keine Sorgen. Es ist so, wie es ist.
Wie lange wird die Durststrecke noch andauern?
Wir wollen nicht so schnell, sondern so sicher wie möglich wieder reisen. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir spätestens im nächsten Herbst wieder Israel-Touren anbieten können.
Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Niemand hat ein Interesse an einem Flächenbrand in Nahost. Es stehen zu viele wirtschaftliche und politische Interessen auf dem Spiel. Eigentlich kann sich Israel diesen Krieg nicht leisten. Er kostet mehrere Hundert Millionen Dollar pro Tag und legt das Wirtschaftsleben lahm, weil rund 360 000 ReservistInnen eingezogen sind. Sie fehlen an ihren Arbeitsplätzen. Der Gazastreifen misst nur etwa 20 mal 50 Kilometer. Israel wird mit seiner starken Armee seine militärischen Ziele in absehbarer Zeit erreichen. Die Ideologie der Hamas kann das allerdings nicht beseitigen. Deshalb ist es nicht damit getan, Kommandozentralen und Raketenabschussrampen zu zerstören und die islamistischen Kämpfer auszuschalten. Nach den Gefechten werden die Verhandlungen folgen müssen. Eine Lösung, wie Palästina und insbesondere der Gazastreifen gerecht verwaltet werden sollen, ist allerdings nicht in Sicht.
Sie sind Pastor. Wie beeinflusst das christliche Denken Ihre Haltung?
Die Bergpredigt ist eine Botschaft der Vergebung und Versöhnung. Ich versuche, sie zu leben und unterstütze meine Freunde auf beiden Seiten, soweit es mir möglich ist. Der einzige Weg zur Versöhnung und zu einem friedlichen Zusammenleben führt über Vergebung und Nächstenliebe.