«Die Gefahren kann man nicht schönreden»
09.07.2024 KanderstegDie «Planungszone Spitze Stei» war für die betroffenen Anwohner von Beginn an ein rotes Tuch. Aus Sicht der Gemeinde ist sie die bessere von zwei Alternativen – und eine jüngst vorgenommene Anpassung zeigt, warum.
BIANCA HÜSING
Die «Planungszone Spitze Stei» war für die betroffenen Anwohner von Beginn an ein rotes Tuch. Aus Sicht der Gemeinde ist sie die bessere von zwei Alternativen – und eine jüngst vorgenommene Anpassung zeigt, warum.
BIANCA HÜSING
Weggerissene Strassen und unterspülte Tunnel, Schäden in zigfacher Millionenhöhe und mindestens vier Tote: Die Verheerungen, die das Unwetter in den letzten Tagen im Wallis und im Tessin verursacht hat, erinnern unter anderem an das Jahr 1987. Auch damals wurde die Schweiz von folgenschweren Naturereignissen heimgesucht – so folgenschwer, dass die Politik daraus ihre Konsequenzen zog. Seit 1991 sind Kantone und Gemeinden gesetzlich dazu verpflichtet, Gefahrenkarten in ihre Raumplanung zu integrieren. Und weil die Natur nicht stillsteht, müssen diese Gefahrenkarten immer wieder überarbeitet werden. Im Schnitt werden sie alle zehn bis fünfzehn Jahre einer Revision unterzogen, doch manchmal zwingen die Umstände eine Gemeinde bedeutend früher dazu. Zum Beispiel Kandersteg: 2018 wurde bekannt, dass sich der Spitze Stein und mit ihm die gesamte Bergflanke aufs Dorf zubewegt. Damals war die revidierte Gefahrenkarte erst zwei Jahre alt.
Flexibler als Gefahrenkarte
«Wir hatten also genau zwei Möglichkeiten», erklärt die zuständige Gemeinderätin Franziska Ryter. «Entweder nehmen wir die jüngsten Erkenntnisse in die Gefahrenkarte auf, oder wir erlassen eine Planungszone.» Die Revision der Gefahrenkarte wäre aus Ryters Sicht die schlechtere Option gewesen. Erstens hätte das Verfahren wegen der laufenden Gefahrenprozesse am Spitzen Stein deutlich länger gedauert, zweitens hätte die Gefahrenkarte auf Jahre hinaus Fakten geschaffen. Die Konsequenzen sind zwar auf den ersten Blick dieselben: Wer sein Grundstück im Gefährdungsperimeter hat, unterliegt gewissen baulichen Einschränkungen. Mancherorts Bauen komplett tabu. Das dient einerseits der Sicherheit der AnwohnerInnen und ist andererseits natürlich auch versicherungstechnisch relevant.
Der grosse Unterschied zwischen Gefahrenkarte und Planungszone besteht gemäss Franziska Ryter in der Flexibilität: «Planungszonen sind wie eine Notbremse, um Zeit zu gewinnen. In unserem Fall ist sie eine Vorstufe zur Gefahrenkarte und kann als solche leichter korrigiert werden. Sie gilt nur vorübergehend und kann einmalig auf insgesamt fünf Jahre verlängert werden.» Von dieser Möglichkeit hat die Gemeinde kürzlich erst Gebrauch gemacht. Im November 2023 wurde die Geltungsdauer der Planungszone bis Anfang 2027 verlängert. «Damit haben wir uns Zeit verschafft, allfällige Änderungen aufgrund von Ereignissen oder einer Entspannung der Gefahrenlage aufzunehmen, bevor wir die neu revidierte Gefahrenkarte auflegen müssen.» Eine erste zentrale Anpassung wurde bereits vorgenommen.
Mehrere Siedlungen nicht mehr erfasst
Seit dem 4. April ist der Perimeter der Planungszone deutlich kleiner, mehrere Siedlungsgebiete an ihren Rändern gehören nicht mehr dazu – zum Beispiel das Quartier im Cher. Aufgrund seiner Nähe zum Wätterbach ist es mit geringer Hochwassergefährdung bereits in der Gefahrenkarte von 2016 aufgeführt. Weil es sich im Restgefährdungsgebiet befindet und sich durch den Spitzen Stein keine zusätzlichen Gefahren ergeben, hat die Gemeinde es nun aus der Planungszone herausgenommen. «Das Gebiet wäre sonst doppelt erfasst gewesen», erklärt Ryter. Mit der gleichen Begründung wurden auch andere Gebiete von der Planungszone abgeschnitten. Für sie gelten damit nur noch die in der Gefahrenkarte von 2016 festgelegten Einschränkungen. Vor Kurzem hat das VBS das Grundstück der ehemaligen Militärapotheke freigegeben, um Bauland für MitholzerInnen zu schaffen. Weil sich dieses Grundstück aber bisher in der Planungszone befand und somit nicht umgezont werden konnte, hätte dort auf absehbare Zeit nicht gebaut werden können. Die Anfrage des VBS war einer der Auslöser für die Gemeinde Kandersteg, ihre Planungszone noch einmal grundlegend zu überprüfen – «und zwar nicht nur auf besagtem Grundstück, sondern auf dem gesamten Talboden», betont Franziska Ryter. Gemeinsam mit allen involvierten Fachstellen und Behörden habe man sich jede Siedlung genau angeschaut und daraufhin den neuen, kleineren Perimeter der Planungszone festgelegt. «Sollte sich die Gefahrenlage ändern, sind weitere Anpassungen möglich – sowohl zum Schlechteren als auch zum Besseren. Wir hoffen natürlich, in den nächsten Jahren noch weitere Verbesserungen erwirken zu können.»
Spätestens 2027 muss die revidierte Gefahrenkarte in Kraft treten, weil dann die Geltungsdauer der Planungszone ausläuft. Ab diesem Zeitpunkt werden so schnell keine Änderungen mehr vorgenommen.
Mehr Spielräume und Zeit verschafft
Franziska Ryter ist überzeugt, dass der Gemeinderat das Beste aus der Situation gemacht hat. Mit der Planungszone habe man sich mehr Spielräume und mehr Zeit verschafft. Gar nicht zu handeln, wäre schon rein rechtlich keine Option gewesen. «Die Gefahren sind erwiesenermassen da, die kann man einfach nicht schönreden.»
Wenn das Wasser nicht versickert
Nicht nur Felsflanken und Flüsse sind eine potenzielle Gefahrenquelle – auch übersättigte Böden können zu grossen Schäden führen. Regnet es anhaltend und viel, kann das Wasser irgendwann nicht mehr versickern, sondern staut sich in Vertiefungen und / oder fliesst in Gebäude(-keller) ab. Gemäss einer Schadensanalyse der Schweizer Versicherer ist dieser sogenannte Oberflächenabfluss für rund die Hälfte der Hochwasserschäden bei Starkniederschlägen verantwortlich (rund 140 Millionen Franken im Jahr). Damit sich LiegenschaftsbesitzerInnen besser gegen solche Schäden wappnen können, hat das Bundesamt für Umwelt in Zusammenarbeit mit Versicherungspartnern im Jahr 2018 eine Gefährdungskarte für Oberflächenabfluss erstellt. Hier lässt sich adressengenau nachsehen, welche Siedlung respektive welche Liegenschaft durch Oberflächenwasser besonders gefährdet ist und wie hoch das Wasser dort stehen könnte.
HÜS
Die Gefahrenkarte Oberflächenabfluss finden Sie unter www.frutiglaender.ch im Bereich Web-Links.