Im Dienst eines russischen Fürsten
23.02.2024 Reichenbach, KientalAUSWANDERER Im 19. Jahrhundert emigrierten viele Reichenbacher ins Zarenreich, darunter Johannes Müller aus Scharnachtal. Die Aeschinerin Veronika Cotting-Nussbaum hat sich mit der Geschichte ihrer Ahnen beschäftigt.
HANS HEIMANN
Mehrere 10 000 ...
AUSWANDERER Im 19. Jahrhundert emigrierten viele Reichenbacher ins Zarenreich, darunter Johannes Müller aus Scharnachtal. Die Aeschinerin Veronika Cotting-Nussbaum hat sich mit der Geschichte ihrer Ahnen beschäftigt.
HANS HEIMANN
Mehrere 10 000 SchweizererInnen wanderten zwischen dem 18. und dem beginnenden 20. Jahrhundert nach Russland aus. Wichtigstes Ziel war die westlich geprägte Metropole St. Petersburg. Hier waren die Arbeitsbedingungen und Aufstiegsmöglichkeiten für zum Beispiel Lehrer, Offiziere, Konditore oder Ingenieure besonders gut. Auch Käser zählten zu begehrten Fachkräften. Sie betreuten auf fürstlichen Landsitzen die Sennereien, stellten Käse her oder handelten mit ihm.
Vom Meister fortgeschickt
In der Geschichte dieser Käserauswanderung spielt auch das Dorf Reichenbach eine Rolle. Gemäss dem Bürgerrodel befanden sich über kürzere oder längere Zeit Personen der folgenden Geschlechter in Russland: Wittwer 118, von Känel 41, Berger 38, Linder 35, Zurbrügg 32, Müller 21, Portenier 17, Sieber 14, Jaggi 14, Mürner 21, Lengacher 13, Bettschen 7, Schneiter 2. Darüber hinaus suchte eine ebenso bedeutende, aber unbekannte Anzahl in Reichenbach wohnender, nichtbürgerlicher Geschlechter wie Dauwalder, Trummer, Krenger, Hari und Eymann ihr Glück im Zarenreich.
Der wahrscheinlich erste Reichenbacher Auswanderer ist Johannes Müller aus Scharnachtal, ein Vorfahr von Veronika Cotting-Nussbaum aus Aeschi: «Johannes Müller war mein Ururgrossonkel und ist 1814 ohne seine Frau und Kinder nach Russland gezogen. Vorher diente er als Angestellter beim Hauptmann Jakob Mani auf Styg im Diemtigtal.» Dieser hatte ihm aufgrund seines etwas unrühmlichen Lebenswandels eine Stelle als Käser in Russland empfohlen, erzählt Cotting-Nussbaum weiter. Mani glaubte, dass sein Knecht etwas Distanz brauche, um die ständig zunehmenden persönlichen Probleme zu bewältigen.
Käse bekannt gemacht
Müllers dreiwöchige Anreise begann mit einem Fussmarsch nach Bern, führte von dort mit dem Postwagen nach Basel und anschliessend mit dem Schiff den Rhein hinunter. Eine weitere Schifffahrt brachte ihn über die Nord- zur Ostsee, dann erneut auf dem Landweg nach St. Petersburg und nach Lotoschino, wo er beim Fürsten Ivan Sergeevic Mescersci seine Stelle als Käser antrat. Die Käserei lag rund 150 Kilometer nordwestlich von Moskau. Müller schien dort gute Arbeit zu leisten, denn der Käse – man nannte ihn Mescersci Syr – erlangte bald weitherum Anerkennung.
Dem tüchtigen Schweizer folgten weitere Bürger aus seiner Heimat, die wiederum ihren Verwandten zusätzliche Käserstellen verschafften – darunter zum Beispiel der gleichnamige Urgrossvater von Veronika Cotting-Nussbaum, Johannes Müller. Er wanderte 1842 nach Lotoschino aus. Nach dem Tod seiner ersten Ehefrau heiratete er in Moskau die Witwe Susanna Klossner, eine geborene Dubach. «Mein Grossvater wurde 1871 im Distrikt Twer geboren und getauft. Als er sechs Jahre alt war, kehrten seine Eltern mit ihm in die Schweiz zurück», so Cotting-Nussbaum.
Das Andenken wird gepflegt
Die Aeschinerin betont, dass es ihre Vorfahren respektive die Schweizer im Allgemeinen gut gehabt hätten unter dem Fürsten. Noch heute würden die Bewohner von Lotoschino die Erinnerung an die Einwanderer aufrechterhalten. Als sie selbst vor 20 Jahren nach Lotoschino reiste, sah sie, dass die einstige Schule heute ein Museum ist. Zahlreiche Frauen im Ort pflegen dort das Andenken an diese Epoche, sagt Cotting-Nussbaum, die bereits vor ihrem Besuch in Briefkontakt mit einer Bewohnerin gestanden hatte. Die Einheimischen empfingen die Schweizer Besucher mit grosser Gastfreundschaft und waren an den mitgebrachten Dokumenten sehr interessiert, denn infolge politischer Umwälzungen waren keine Akten von damals mehr vorhanden.
Mit «Heimschaffungszügen» ins Ungewisse
Mit der Zeit waren die Schweizer Käsereien über ganz Russland verteilt, seit 1916 befand sich sogar eine im Altaigebirge in Sibirien, 3500 Kilometer von St. Petersburg entfernt. Die Ausgewanderten führten ein arbeitsreiches, aber gutes Leben und hatten meist ein offenes Haus für viele Gäste. Diese Erfolgsgeschichte fand zunächst mit dem Ersten Weltkrieg und dann mit der Oktoberrevolution von 1917 ein abruptes Ende, wie eine Studie des Russlandschweizer-Archivs im Sozialarchiv Zürich zu diesem Thema verdeutlicht. Zahlreiche Russlandschweizer hatten ihre Habe verloren, verliessen ihre zweite Heimat und kehrten in sogenannten Heimschaffungszügen zurück. Manche sahen die Schweiz zum ersten Mal, da sie in Russland geboren worden waren, und empfanden das Land als zu eng und kleinlich. Für viele begann das Leben in der Schweiz zudem mit grosser Ungewissheit: Würde ihnen der Neuanfang gelingen? Bei Johannes Müller hat es offenbar funktioniert. Er kehrte nach 25 Jahren mit einem ansehnlichen Vermögen in die Heimat zurück. Es schien, dass er seine Flegeljahre hinter sich gelassen hatte, denn er bekleidete in Reichenbach fortan mehrere öffentliche Ämter, ehe er 1851 verstarb.
Einen Link zum Russlandschweizer-Archiv finden Sie unter www.frutiglaender.ch (Web-Links).