Längst kein Smalltalk-Thema mehr
03.10.2023 GesellschaftKLIMADEBATTE Übers Wetter zu reden, galt einmal als harmloses Geplauder. Heute gilt das Gegenteil: Wer Temperaturen und Niederschläge anspricht, betritt vermintes Gelände. Doch es hilft nichts: Das Thema wird die Menschheit noch eine Weile begleiten – auch in den ...
KLIMADEBATTE Übers Wetter zu reden, galt einmal als harmloses Geplauder. Heute gilt das Gegenteil: Wer Temperaturen und Niederschläge anspricht, betritt vermintes Gelände. Doch es hilft nichts: Das Thema wird die Menschheit noch eine Weile begleiten – auch in den Medien. Ein Kommentar.
MARK POLLMEIER
In den USA gehört der Smalltalk zum guten Ton. Und damit die zwanglose Konversation nicht aus dem Ruder läuft, beherzigt man dort eine eherne Regel: Die Themen Politik und Religion, Kriege und Krankheiten sind tabu! Stattdessen solle man zum Einstieg übers Wetter reden, lautet stets die Empfehlung – damit mache man sicher nichts falsch.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Als Einstieg ins Partygeplauder eignet sich das Wetter schon lange nicht mehr. Schon eine arglose Bemerkung über Hitze oder Trockenheit kann ein Gespräch binnen Sekunden eskalieren lassen.
Das Wetter ist eben nicht einfach nur das Wetter: Es ist die kleine Schwester des Klimas – und übers Klima zu reden, ist mittlerweile ein politisches Statement, ja eine Frage des Glaubens. Je nach Standpunkt gilt man als Leugner oder Hysteriker, als irgendwie links-sozialistisch oder unverbesserlich rechts.
Morddrohungen für Wetterfrösche
Wie bei jedem kontroversen Thema, das die Gesellschaft diskutiert, geraten irgendwann auch die Medien unter Beschuss. Die einen bemängeln, angesichts der globalen Bedrohung werde der Klimawandel nicht angemessen berücksichtigt. Die anderen beklagen, die Berichterstattung sei zu alarmistisch, jeder etwas wärmere Sommertag werde gleich zur Klimakatastrophe ausgerufen.
Auch die Unterstellung, die Medien würden mit ihrer Berichterstattung eine geheime Agenda verfolgen, steht immer wieder einmal im Raum. Anfang August geriet SRF-Wettermann Thomas Bucheli in einen Shitstorm, weil er – angeblich mit Absicht – zu hohe Temperaturwerte für einige Gegenden in Südeuropa vorausgesagt hatte. In den USA, wo die Debatten immer noch ein paar Umdrehungen erbitterter verlaufen, kündigte ein Wettermoderator etwa zur gleichen Zeit seinen Job – er hatte nach seinen Sendungen immer wieder Morddrohungen erhalten.
Ist das noch normal?
Wann genau das Wetter zum verminten Gelände wurde, ist schwer zu sagen. Aber schon vor fünf Jahren ereignete sich beim «Frutigländer» eine Episode, die einen Vorgeschmack auf die heutige Debattenkultur gab. Damals berichteten wir mit ein paar Zeilen über das Eröffnungsfest einer neuen Tankstelle. In seinem kurzen Bericht erwähnte der Autor, die Organisatoren hätten Pech gehabt mit dem Wetter – am Eröffnungstag hatte es zeitweise in Strömen geregnet. Kaum war der Artikel erschienen, ging in der Redaktion eine wütende Leserzuschrift ein: Was denn dieses Gerede vom schlechten Wetter solle? Angesichts der langen Trockenheit sei es doch ein Segen, dass es nun endlich wieder Niederschläge gebe! Wir Journalisten sollten doch bitte einmal kurz nachdenken, bevor wir etwas niederschreiben.
Spätestens im Jahr 2018, in dem es einen ausgesprochen heissen, trockenen Sommer gab, war das Wetter also ein heikles Thema geworden. Und natürlich wurde damals (auch) in den Medien spekuliert, ob dies noch ein «normaler» Sommer sei – oder ein Vorbote jenes Klimawandels, über den Politik und Gesellschaft diskutierten.
Von Rekord zu Rekord
In den letzten Tagen erreichten die Redaktionen wieder zahlreiche Meldungen über das Wetter. Und wie so häufig in letzter Zeit waren diese Zuschriften gespickt mit Rekorden und Superlativen. Die professionellen Wetterbeobachter waren sich einig: «Wärmster September seit Messbeginn» – «ein Monat mit ausserordentlich vielen Sommer- und Hitzetagen» – «Temperaturüberschuss von mehreren Grad zum langjährigen Mittel» – «ungewöhnlich hohe Nullgradgrenze».
Was sollen Medien mit derlei Meldungen anfangen? Die Einschätzungen der Experten sind ja nicht aus der Luft gegriffen, sondern mit meteorologischen Daten untermauert. Ist es noch möglich, darüber zu berichten, ohne irgendeine Gruppe gegen sich aufzubringen, zumal in Wahlkampfzeiten?
Es scheint zumindest schwierig zu sein, das zeigen exemplarisch jene Zuschriften, die beispielsweise MeteoSchweiz nach solchen Veröffentlichungen erhält. «Jetzt mal langsam mit den jungen Pferden. Geniessen Sie doch das schöne Spätsommerwetter, statt eine Hitzewelle heraufzubeschwören, die keine ist», schreibt da ein Leser. «Wenn sich die Langzeitprognosen bewahrheiten, bekommt dieser September trotz kürzerer Tage den Wettercharakter eines Juli-Monats», kommentiert ein anderer. «Diese Entwicklung ist ganz klar negativ und besorgniserregend.»
Ein bisschen ist es wie bei der erwähnten Tankstelleneröffnung: Wie man ein Wetter beurteilt, ist eine Frage des Standpunkts, vielleicht sogar des Naturells. Der eine freut sich unbekümmert über den sonnigen, trockenen Spätsommer. Der andere ordnet dieselbe Wärme und Trockenheit in einen grösseren Zusammenhang ein – und macht sich grösste Sorgen. Ob es zwischen diesen beiden Positionen noch eine Schnittmenge gibt, eine gemeinsame Sicht auf die Dinge?
Beherrschend für Jahrzehnte
Zurück zur Rolle der Medien. Was ist ihre Aufgabe im Wetter- und Klimadiskurs? Sollen sie den wärmsten September aller Zeiten für sein tolles Wetter feiern? Sollen sie nüchtern verkünden, was die Meteorologen messen? Dürfen sie sich zum Klimawandel äussern – müssen sie es gar?
Natürlich müssen sie. Wetterereignisse und Klimawandel werden die grossen Themen der nächsten Jahrzehnte sein. Es wäre eine merkwürdige Erwartung, dass die Medien ausgerechnet diese Themen nicht aufgreifen oder möglichst klein halten sollten.
Übertreibungen sind nicht nötig
Bleibt die Frage des Wie. Eine häufig geäusserte Kritik ist, dass «die Medien» übertreiben, dass sie alles, was mit Klima zu tun hat, aufbauschen und dramatisieren. Wie immer ist dieser Vorwurf sicher teilweise berechtigt. Nicht überall wird sauber recherchiert und gearbeitet, nicht immer werden die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Und natürlich gibt es – wie bei jedem Thema – Beiträge, die zugunsten von Klicks und Auflage reisserisch daherkommen.
Dabei wäre das gar nicht nötig, denn die meisten Klimanachrichten sprechen ja für sich. Zum Beispiel diese: Vor wenigen Tagen hat das Bundesamt für Meteorologie den Klimareport für das vergangene Jahr vorgestellt. Das Fazit des 100-seitigen Dokuments: 2022 geht als bisher wärmstes Jahr seit dem Messbeginn in die Schweizer Klimageschichte ein. Es war an einigen Standorten auch das sonnigste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen 1864 – und gebietsweise eines der trockensten der letzten Jahrzehnte.
Den Link zum Schweizer Klimareport 2022 haben wir in unserer Web-Links-Übersicht hinterlegt: www.frutiglaender.ch