«Lebenslinien»: Zwischen Heimat und Fernweh
15.07.2025 SeriePorträtreihe «Lebenslinien» – 1 von 3
«Wir sind spätabends angekommen. Es war nach 22 Uhr und es war sehr dunkel. Plötzlich stiegen wir aus dem Auto und ich sah etwas ganz Grosses, ganz Dunkles und ich verstand nicht, was das ist. Ich ...
Porträtreihe «Lebenslinien» – 1 von 3
«Wir sind spätabends angekommen. Es war nach 22 Uhr und es war sehr dunkel. Plötzlich stiegen wir aus dem Auto und ich sah etwas ganz Grosses, ganz Dunkles und ich verstand nicht, was das ist. Ich fragte: Sind das Berge?»
Als Anastasiia, kurz Nastia genannt, diese Frage stellte, war sie zum ersten Mal in Sicherheit. Zum ersten Mal seit Wochen hörte sie keine Panzer, keine Sirenen, keine Schüsse. Stattdessen nur diese riesigen schwarzen Schemen in der Nacht. Die Berge, die sie nicht kannte, aber von nun an bleiben würden.
Am nächsten Morgen zog sie den Vorhang zur Seite. Dahinter: Frutigen, das Mitte April bereits mit Krokussen blühte, während die Gipfel immer noch weiss bedeckt waren. Für Nastia war das, als würde sie in eine andere Welt schauen. «Ich denke, egal wie viele Jahre ich hier wohnen werde, es wird immer so schön bleiben», sagt die 18-Jährige heute, die inzwischen seit über drei Jahren hier im Tal lebt.
Wenn Nastia vor einem sitzt, merkt man ihr nicht an, was sie schon alles hinter sich hat: Aufgewachsen ist sie in der Region Sumy, im Nordosten der Ukraine, acht Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Ihre Kindheit beschreibt sie als ruhig, fast idyllisch: «Ich habe in einem kleinen Dorf gewohnt, dort war nichts Besonderes, ausser der Schule. Manchmal konnte ich ein paar Mal pro Woche tanzen oder singen gehen.» Zusammen mit ihren Eltern und ihren zwei Haustieren lebte sie dort – sie hatte eine Kindheit wie viele andere auch. Ausserdem fotografierte sie gern.
24. Februar 2022, 4:00 Uhr morgens:
Nastia wurde wach, weil ihre Eltern im Wohnzimmer laut redeten. Sie griff verschlafen nach ihrem Handy – dort fand sie Nachrichten ihrer Klassenkameradinnen: «Ich höre Panzer. Ich höre, wie sie fahren.» Sie ging ins Wohnzimmer, sah ihre Mutter, die Tränen in den Augen hatte, ihren Vater, der sagte: «Alles gut, mach dir keine Sorgen.» Doch durch die Fenster, die Richtung Russland zeigten, sah Nastia schliesslich etwas, das sie noch nie gesehen hatte: Der Himmel war feuerrot – Raketen, Feuer, Chaos. Wenig später hörte sie die Panzer auch.
Die Familie hatte einen kleinen Keller unter dem Haus, in dem sie sonst Kartoffeln und Gemüse lagerten. Jetzt wurde er zum Schutzraum, in dem die Familie die nächste Zeit verbrachte. Dokumente, Wasser, warme Kleidung – all das nahmen sie mit hinunter. Niemand wusste, wie lange sie ausharren müssten. Für Nastia war es das erste Mal, dass sie verstand, was Krieg heisst. «Ich habe meine Schuhe zwei Wochen lang nicht ausgezogen», sagt sie. «Wir mussten jederzeit bereit sein. Man hörte Raketen, Panzer, Flugzeuge – alles ging über unser Dorf hinweg. Dabei wussten wir nicht, in welche Richtung die Fahrzeuge flogen. War das das russische oder ukrainische Militär?»
Trotz ihrer Angst wollte Nastia stark sein. Sie wusste, dass ihre Eltern genug Sorgen hatten, also versuchte sie, ihre eigene Panik nicht zu zeigen. Sie half, wo sie konnte: füllte Wasserflaschen auf, packte Kleidung zusammen, half beim Kochen. Obwohl ihr Vater bereits pensionierter Grenzsoldat war, wurde er umgehend wieder einberufen. Doch vorher wollte er nur eines: dass seine Tochter in Sicherheit war. Also begannen die Planungen.
Das erste Mal im Ausland:
Nastia sollte mit ihrer Tante und ihrem kleinen Cousin, damals sieben Jahre alt, die Ukraine verlassen.
Die erste Station führte sie nach Warschau, Polen. Am Grenzübergang warteten sie sieben Stunden. In Warschau schliefen sie bei Bekannten, bevor sie den Zug nach Berlin nahmen. «Wir hatten keine Sitzplätze, alles war voll. Wir sassen auf dem Boden – aber wir waren froh, dass wir unterwegs waren», erinnert sie sich.
Sie reisten weiter in die Schweiz. Eine Freundin der Tante hatte ihnen einen Kontakt in Frutigen vermittelt. «Ich war so müde, als wir ankamen. Ich wusste nicht, wo wir genau sind. Ich hatte nur diesen einen Gedanken: Jetzt ist es ruhig. Jetzt ist es sicher.»
Drei Tage nach ihrer Ankunft sass sie zum ersten Mal in einem Schweizer Klassenzimmer. Sie konnte kein Wort Deutsch. «Ich sass einfach da. Ich verstand nicht, was der Lehrer sagte. Ich konnte nur sagen: Ich heisse Nastia, ich komme aus der Ukraine.»
Alles andere erarbeitete sie sich Stück um Stück. Erst waren es Farben, Zahlen, Buchstaben und kleine Sätze. Dann kamen kleine Gespräche mit Schweizer Mitschülerinnen dazu. «Jetzt kann ich die Sprache sprechen», so Nastia heute. «Nicht perfekt, aber gut genug. Und ich weiss, dass ich weiterlernen will.»
Zwischen den Welten:
Nastia hat fast täglich Kontakt zu ihren Eltern. Sie telefonieren über Videoanrufe. «Es hilft mir sehr zu wissen, dass es ihnen gut geht. Wenn ich höre, dass sie lachen, kann auch ich ruhig schlafen.»
Neben der Schweizer Schule hatte sie jeden Abend ukrainischen Online-Unterricht. «Es war manchmal wirklich viel», erinnert sie sich. Die ukrainische Schule hat sie erfolgreich abgeschlossen, mit einer Prüfung in Bern.
Bald merkte sie, dass dieses Zertifikat ihr hier nicht viel nützt. Sie wollte nicht warten, bis sie wieder zurück in die Ukraine konnte – sie wollte sich hier etwas aufbauen. Sie besuchte am IDM Spiez ein Brückenangebot. «Dort habe ich verstanden, dass ich bleiben will. Ich will selbstständig sein», erzählt sie.
Lange suchte sie nach einer Lehrstelle, schrieb viele Bewerbungen, bekam Absagen. Aber sie liess nicht locker: Im Sommer 2025 beginnt sie ihre Ausbildung zur Informatikerin. Ein Beruf, der sie schon in der Ukraine interessiert hat.
Mit jedem Monat wird die Schweiz mehr zu ihrem Zuhause. Sie hat Freundinnen und Kollegen gefunden und kennt die Wege im Dorf. Fotografieren tut sie noch immer gerne. «Ich fühle mich wirklich wohl hier», sagt sie.
In den letzten drei Jahren hat Nastia ihre Eltern dreimal gesehen. Sie treffen sich in Uschgorod, ganz im Westen der Ukraine, nahe der ungarischen Grenze – weit weg vom Frontgebiet. Seitdem ist diese Stadt ein stiller «Hotspot» für die Familie geworden. Einmal kam ihre Mutter für fast drei Monate in die Schweiz, um bei ihr zu sein. Ihr Vater darf die Ukraine nicht verlassen – er ist weiterhin im Dienst. «Mein grösster Wunsch ist, dass mein Vater einmal hierherkommt», sagt Nastia. «Ich erzähle ihm immer von den Bergen, aber er muss sie selbst sehen.» Und manchmal, wenn sie an die Nacht ihrer Ankunft zurückdenkt, merkt sie, dass diese, ihr einst fremden Berge ein Stück Heimat geworden sind.
SARAH WNUK
Hintergrund
Der grossflächige Krieg in der Ukraine begann am 24. Februar 2022 mit dem Angriff Russlands auf das gesamte ukrainische Staatsgebiet. Millionen Menschen mussten ihr Zuhause verlassen. In der Schweiz erhalten Geflüchtete aus der Ukraine den Schutzstatus S – so auch Nastia. Dieser Status ermöglicht ihnen vorübergehenden Aufenthalt, Schulbesuch und Arbeit.
SARAH WNUK
Über die Reihe «Lebenslinien»
Im Rahmen meiner Maturaarbeit schreibe ich die Porträt-Reihe «Lebenslinien». Damit will ich jungen Menschen eine Stimme geben, die ihre Heimat verlassen mussten und deren Erfahrungen im Alltag manchmal vergessen gehen. Ich möchte ihre Lebenswege und Fluchtgeschichten nahbarer machen – Geschichten, die mitten im Frutigland weitergehen.
SARAH WNUK