Lieber schaufeln als Papiere lesen

  18.08.2023 Region

SOMMERSERIE, TEIL 4 Als Tourismusdirektor hat Jerun Vils jahrelang die Angebote von Partnern vermarktet. Jetzt hilft er, solche selbst zu entwickeln und auch umzusetzen – in Kolumbien, Tirol oder Kandersteg.

HANS RUDOLF SCHNEIDER
Jerun Vils will immer etwas bewegen. Das sagte er vor zehn Jahren, als er als damals dienstältester Oberländer Tourismusdirekter zum Schweizer Alpenclub SAC wechselte. Und das will er auch heute noch – nicht nur, weil er persönlich oft draussen unterwegs ist. Seit drei Jahren gibt er seine berufliche Erfahrung als selbstständiger Unternehmer weiter. «Ich bin kein klassischer Berater, sondern eher ein Projektleiter», betont er. Er habe in seinem Berufsleben so viel Papier gelesen und studiert (und auch verfasst), dass er heute seine Konzepte in Kurzform zusammenfasst und dann am liebsten auch gleich bei der Umsetzung mithilft. Der Touristiker, der die Angebote von anderen vermarktete, hat quasi die Seiten gewechselt und ist jetzt an der Gestaltung neuer Angebote direkt beteiligt.

Der Weg über den Berg
Die Liste der abgeschlossenen und laufenden Projekte der Explorafutura GmbH («Zukunft entdecken») – so der Name der Firma von Jerun Vils und seiner Geschäftspartnerin Barbara Urfer – verspricht einiges. Schwerpunkte der Arbeit sind Tourismus, Outdoor und Mobilität. Wie diese Themen zusammenspielen, zeigt er am Beispiel des Stockalperweges über den Simplon. Vils erhielt den Auftrag, den bestehenden historischen Wanderweg von der Schweizer Grenze bis Domodossola zu reaktivieren und zu vermarkten. Nach der Aufnahme der Wegstrecken und Attraktionen sowie der Potenzialanalyse, dem Ausarbeiten des inhaltlichen Konzepts und der Finanzierung nahmen Vils und Urfer schliesslich auch die Schaufeln in die Hand und halfen bei der Realisierung tatkräftig mit. Man spürt seine Begeisterung, wenn er von greifbaren und erfolgreichen Resultaten erzählt – und nicht von Papiertigern.

Outdoor und Mobilität waren auch bei einem Auftrag der Cerebral-Stiftung wegweisend. Entstanden ist ein Angebot von gut 20 Destinationen, die geländegängige Elektrorollstühle vermieten und gleich auch die damit befahrbaren Routen signalisiert haben. Im Gelände wurden diese festgelegt und teilweise angepasst. «Es ist sehr emotional, wenn Familien plötzlich mit ihrer auf den Rollstuhl angewiesenen Grossmutter unterwegs zu einem Aussichtspunkt sind, den sie sonst nie mehr im Leben erreicht hätte», erklärt Vils seine Motivation, solche Mandate anzunehmen.

Tiroler Projekt als Vorbild
Fast sein Leben lang hat Jerun Vils im Tourismus gearbeitet. Die Frage drängt sich daher auf: Machen es die Schweizer besser als andere Länder? «Wir haben seit Langem Fremdenverkehr und somit sehr viel Erfahrung angesammelt. Aber grundsätzlich sind wir nicht besser als andere.» Dennoch sind sein Wissen und seine Ideen auch im Ausland gefragt. Kolumbien (Tourismusentwicklung) und Albanien (Agrotourismus) stehen auf seiner Referenzenliste, aber auch Tirol.

Das dortige Projekt Kaunertal hat Schule gemacht. Das spärlich besiedelte Tal in Tirol, mitten zwischen grossen österreichischen Destinationen wie Sölden und Ischgl gelegen, wurde laut Vils oft belächelt. Ein Stausee und ein Gletscherskigebiet waren seine bekanntesten Attraktionen, ergänzt durch einen Naturpark. Gemeinsam habe man die Stärken des Tals definiert und Massnahmen festgelegt. Die dadurch entstandene Strategie werde nun umgesetzt. Heute sei der nachhaltige und sanfte (Sommer-)Tourismus dort erfolgreich und habe 2021 eine Auszeichnung als «best tourism village of the world» von der UNO erhalten. Die Vize-Bürgermeisterin konnte das Konzept sogar an der UNO-Vollversammlung in New York präsentieren – in Tracht – , sagt Vils mit einem strahlenden Lachen.

Mittlerweile habe die Tourismusdirektorin schon in den grossen Nachbardestinationen wie auch in Kandersteg ihr Erfolgsrezept präsentiert. Dort hat Explorafutura ein Mandat, um den Tourismus in eine langfristig erfolgreiche Zukunft zu führen. «Die Balance zwischen ‹genug und zu viel› ist schwierig, aber insbesondere am Oeschinensee will man dies in den Griff kriegen. Der Weg ist nicht einfach, aber zukunftsweisend und erfolgsversprechend für den Ort», ist Vils überzeugt. Das Kaunertaler Projekt strahlt also zurück bis ins Kandertal.

Jugendliche im Fokus
Sehr handfest ist die Arbeit des Unternehmers als Präsident des Panorama-Rundweges Thunersee, insbesondere beim Teilprojekt Kettenfähre in Thun. Die Arbeit als Verwaltungsrat bei der AFA AG verbindet wiederum mehrere seiner fachlichen Schwerpunkte. Zudem bietet seine Firma zusammen mit Privatschulen wie zum Beispiel der NOSS in Spiez Workshops für Jugendliche zum Thema Berufswahl an – selbstverständlich in Form zweitägiger Outdoorcamps. «Die Natur ist Mittel zum Zweck, sie soll die nötige Ruhe für Überlegungen schaffen», erklärt er.

Weiter ist Vils an der Tourismusfachschule in Thun tätig, wo er Mobilitätsunterricht und Volkswirtschaft lehrt. Ausserdem arbeitet er als Jobcoach in der Fachstelle Arbeitsintegration, angegliedert bei der Stadt Thun. Dort verschafft er Wiedereinsteigern Praktika und die Perspektive auf Festanstellungen im ganzen Kanton – vom Seeland bis ins Oberland. Allein diese Aufgabe umfasst etwa 50 Prozent seiner aktuellen Tätigkeit und gibt ihm finanzielle Sicherheit, lässt ihm aber auch Freiheiten für seine Projektarbeiten.

In Bewegung bleiben
All diese Beispiele zeigen, dass «ich meist viele Bälle gleichzeitig in der Luft habe», sagt der umtriebige Geschäftsmann. Als Tourismusdirektor oder Geschäftsführer stand er oft im Vordergrund, was heute weniger der Fall ist. Und das gefällt Jerun Vils durchaus. Er hat kein grosses Büro, dieses hat er in Form seines Laptops immer dabei. Und bewegen wird er sich weiterhin: Aktuell ist er mit seiner Lebenspartnerin auf dem Tandem bis in den Balkan unterwegs. Derzeit stehe das Fahrrad nach mehreren Etappen bereits in Griechenland und warte auf seine sportlichen Besitzer und die Weiterfahrt.


Steckbrief

Jerun Vils (53) war von 2013 bis 2018 Geschäftsführer des Schweizerischen Alpenclubs (SAC). Anschliessend arbeitete er bei der BLS im Bereich Marketing für die Schifffahrt und den Autoverlad sowie als Leiter des Bereichs «touristische Partnerschaften». In der Region bekannt ist er vor allem, weil er neun Jahre für die Destination Kandertal und Lötschberg sowie fünf Jahre als Tourismusdirektor von Kandersteg arbeitete. Neun Jahre war er zudem Präsident des Dachverbands Destinationen Berner Oberland. Seit etwa fünf Jahren wohnt Vils in Thun.

HSF


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