«Niemand übersteht das unversehrt»

  13.06.2023 Kandersteg, Kultur

Am vergangenen Freitag las die Schauspielerin Noëmi Gradwohl aus dem Roman «Kleiner Bruder» vor. Die reale Geschichte eines Geflüchteten war ebenso bedrückend wie das anschliessende Gespräch mit der Seenotretterin Eva Ostendarp.

BIANCA HÜSING
«Wir fuhren weiter, weit weg von der Küste. Dort blickst du dich wieder in alle Himmelsrichtungen um und siehst um dich herum nur eins: das Meer. Du kannst nicht schwimmen. Dann streikt der Kompass.» Einfache Hauptsätze ohne Schnörkel und übertriebene Dramatik – und doch steckt so viel Ballast darin. Der Ballast Tausender Toter, die Jahr für Jahr vom Mittelmeer verschluckt werden. Der Ballast einer chaotischen europäischen Asylpolitik. Und die Schwere eines Einzelschicksals.

Die Sätze stammen aus dem Roman «Kleiner Bruder» von Amets Arzallus und wurden am vergangenen Freitag von der Schauspielerin und Kulturredaktorin Noëmi Gradwohl vorgetragen. Sie tat dies keineswegs emotionslos, aber in angemessener Schlichtheit. Die Worte haben schliesslich schon von sich aus genug Kraft: «Elf Uhr null null. Alles gleich. Zwölf Uhr null null, und ich warte auf den Tod.»

«Weil es hinter uns keine Zukunft gibt»
«Kleiner Bruder» erzählt die Geschichte des jungen Ibrahima Balde, der in einem Dorf im westafrikanischen Guinea aufwächst und schon als Teenager grosse Verantwortung trägt. Nach dem Tod seines Vaters kommt ihm die Rolle des Ernährers zu. Statt zur Schule gehen zu können, muss er nun Geld verdienen – unter anderem für die Bildung seines kleinen Bruders Alhassane. Der aber hat andere Pläne und verschwindet eines Tages unangekündigt Richtung Europa, um seinerseits etwas zum Familieneinkommen beitragen zu können – «weil es hinter uns keine Zukunft gibt». Ibrahima beschliesst, Alhassane zu suchen und wird dadurch unfreiwillig selbst zum Flüchtenden.

«Kleiner Bruder» ist zwar ein Roman, fiktiv ist er aber nicht. Ibrahima ist ebenso real wie die entmenschlichenden Erfahrungen, die er auf seiner Flucht macht. Zum Beispiel auf dem Markt in Taalanda: «Du bist in einer Ecke, liegst oder hockst auf dem Boden. Jemand wird deinen Namen sagen oder dich ohne Namen zu sich rufen. Dann musst du in die Mitte treten. Derjenige, der dich kaufen will, wird zu dir kommen und dich zu mustern beginnen. Von oben nach unten. Von unten nach oben.»
Das Buch begleitet Ibrahima Balde auf der Suche nach seinem Bruder, auf 19-stündigen Fussmärschen und auf der Fahrt in einem hoffnungslos überfüllten Schlauchboot. Dass der baskische Autor Amets Arzallus all das hat verschriftlichen können, zeigt: Zumindest für Ibrahima gab es eine Art Happy End.

Zusammenarbeit mit den Ortskirchen und der Bibliothek
Für viele andere Geflüchtete gilt das nicht. «Täglich sterben Menschen im Mittelmeer. 2018, im Jahr, in dem Ibrahima nach Europa kam, waren es mindestens 2337 Personen», informierte Sabine Jaggi von der Fachstelle Migration der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. «All diese Menschen sind aus unterschiedlichen Gründen aufgebrochen und hätten eine Geschichte zu erzählen wie Ibrahima Balde.» Doch auch wer die gefährliche Flucht überlebe, habe für immer sein Päckchen zu tragen: «Niemand übersteht eine solche Reise unversehrt.»
Sabine Jaggi ist Co-Leiterin des Projekts «Leselust» und organisiert seit 2014 Lesungen mit den Themenschwerpunkten Migration, Integration und Religion. Erstmals machte «Leselust» nun halt in Kandersteg, wo die Veranstalterinnen auf die Mithilfe der örtlichen Bibliothek und der beiden Kirchen zählen konnten. «Herzlichen Dank, dass ihr auch an den Rand des Kantons Bern kommt», goutierte Pfarrerin Christine Eichenberger das Gastspiel in ihrer Kirchgemeinde. Dies passe insofern, als sich die Geschichte des Romans an den Rändern Europas abspiele.

Verätzungen und Folterverletzungen
Was sich dort konkret abspielt, weiss Eva Ostendarp. Die Sankt Gallerin hat für verschiedene Nichtregierungsorganisationen in Flüchtlingslagern gearbeitet und war bis vor Kurzem in der Seenotrettung tätig (SOS Méditerranée). Im Gespräch mit Noëmi Gradwohl schilderte sie, in welchem Zustand die Bootsflüchtlinge oft vorgefunden werden, so sie denn überhaupt noch leben. Viele von ihnen – vor allem Frauen und Kinder, die zu ihrem vermeintlichen Schutz in der Bootsmitte platziert werden – hätten Verätzungen an der Haut, die aus der Mischung von Meerwasser und Benzin entstünden. Andere trügen sichtbare Folterverletzungen von den libyschen Lagern davon. Und mittendrin die Toten: Viele der Rettungsschiffe seien mit Kühltruhen ausgestattet, damit die Leichen abtransportiert werden können.

Entschieden wehrt sich Ostendarp gegen den Vorwurf, Seenotretter würden das Geschäft der Schlepper unterstützen. «Den Schleppern ist es egal, ob die Menschen jemals in Europa ankommen. Sie wollen nur ihr Geld.» Verschiedene wissenschaftliche Studien hätten zudem aufgezeigt, dass es keinen Zusammenhang gebe zwischen der Anzahl Flüchtender und anwesender Rettungsschiffe. Nachdem die Operation «Mare Nostrum» Ende 2014 eingestampft worden war, seien die Menschen weiterhin geflohen. «Der einzige Unterschied war, dass es dann mehr Tote gab.»

«Sie haben so viel mehr zu bieten»
Es war starker Tobak, der dem Publikum im Kirchgemeindehaus da zugemutet wurde. Trotzdem herrschte nach der Lesung und dem Live-Interview keineswegs betretenes Schweigen. Sehr engagiert brachten sich die BesucherInnen in die Diskussion ein und wollten beispielsweise wissen, ob man den Schleppern nicht das Handwerk legen könne. Ostendarp verneinte. Es sei sehr schwierig, die Banden zu stellen, da diese vorwiegend in Libyen tätig seien – also erstens nicht auf europäischem Grund und zweitens in einem politisch unbeständigen, gespaltenen Staat. Eine andere Zuhörerin merkte an, es brauche Aufklärungsarbeit hinsichtlich der Gefahren einer Flucht und der Perspektivlosigkeit im Zielland. Ostendarp berichtete daraufhin von ihren Begegnungen mit Afghaninnen, die zum Teil sehr naive Vorstellungen gehabt hätten. «Gerade diese Frauen sagten aber auch: ‹Wir haben keine Wahl.›»

Um die KanderstegerInnen nicht mit allzu viel Schwermut zurückzulassen, erzählte die Sankt Gallerin am Ende von den vielen schönen Momenten ihres Berufs, vom gemeinsamen Lachen und von kulturübergreifenden Tanzfesten. Das Publikum rief sie dazu auf, die Menschen nicht auf ihre Rolle als Geflüchtete zu reduzieren. «Sie haben so viel mehr zu bieten.»


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote