Perspektivenwechsel
29.12.2023 RegionIm Journalismus ist es wichtig, Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Quasi als interne Schulung haben sich die «Frutigländer»-RedaktorInnen zum Jahresende deshalb mit der Frage befasst, mit wessen Augen sie die Welt 2024 betrachten möchten – und weshalb.
Wir wünschen Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, fürs nächste Jahr alles Gute, viel Weitblick und Einfühlungsvermögen.
Der Fels oder Leuchtturm in der Brandung: Ich kann mir das Jahr 2024 durchaus inmitten der tosenden Wellen vorstellen – als Leuchtturmwärter. Mit Homeoffice im Ozean oder in der Ostsee. Trotz Wind und Wellen soll es dort viel Ruhe geben, nur unterbrochen vom Reinigen des langsam drehenden Scheinwerfers, dem Wechseln der Glühbirne oder der Ankunft des Versorgungsschiffs – so zumindest die verklärte Vorstellung eines Berglers. Seemannsgarn spinnen würde sicher auch viel leichter fallen mit Blick über den weiten einsamen Horizont als in der Redaktion in Frutigen. Spinnerei einer Landratte? Vielleicht, aber immerhin haben wir auf dem 2046 Meter hohen Oberalppass den weltweit höchstgelegenen Leuchtturm.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Die grenzenlose Freiheit über den Wolken geniessen, wie sie Reinhard Mey besingt, das möchte ich nächstes Jahr. Es muss amüsant sein, aus der Höhe zu beobachten, wie die Zweibeiner ihre Probleme zu lösen versuchen, welche sie sich während Jahrzehnten eingebrockt haben. Bekomme ich Besuch von unten, zum Beispiel vom «Adler von Adelboden», kostet mich sein ganzer Effort bloss ein müdes Lächeln. Und dank meiner Adleraugen kann ich sogar auf meine Brille verzichten.
KATHARINA WITTWER
Die kommenden 12 Monate würde ich gerne als Büsi erleben. Wie schön muss es sein, den ganzen Sommer über zu faulenzen und sich die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen. Den Winter verbringe ich im dicken Pelzkleid, und statt zu frieren, jage ich Schneeflocken und Mäuse. Ums Futter muss man sich wohl so oder so keine Gedanken machen und gestreichelt wird man zudem auch die ganze Zeit. Wie ein Haustiger werde ich mich nun zu einer Kugel zusammenrollen und den Jahreswechsel getrost verschlafen – sofern mich der Böllerlärm nicht aufschreckt.
MARIA STEINMAYR
Ich verbringe das Jahr 2024 als Coronavirus. Erstens stehen mir die Zacken besser als meine eigene Frisur, zweitens will ich auch mal fliegen dürfen – ganz ohne CO2-Ausstoss und Flugscham. Ich komme viel herum und lerne allerhand über die Anatomie des Menschen, schliesslich habe ich Zutritt zu elf wichtigen Organen. Obwohl ich dort nicht nur Gutes im Sinn habe, empfangen mich die meisten Menschen mit offenen Türen bzw. Atemwegen. Manche haben sogar dafür demonstriert, mich aufnehmen zu dürfen. Statt mich darüber zu wundern, greife ich beherzt zu. Denn wie heisst es so schön: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul – man fliegt einfach hinein.
BIANCA HÜSING
Was nützt es, in die Haut eines Vorzeigemenschen zu schlüpfen, der eh schon alles richtig macht? Ich tue lieber das Gegenteil – und verbringe 2024 als Donald Trump. Erstens würde es mich ernsthaft interessieren, ob man Mist plötzlich zu glauben beginnt, wenn man ihn nur oft genug wiederkäut. Und natürlich wäre da zweitens ganz viel Potenzial vorhanden, ein paar Dinge einzurenken und die Welt ein kleines bisschen anständiger zu machen.
JULIAN ZAHND
In einem Theaterstück des Schriftstellers Ödön von Horváth kommt ein schöner Satz vor: «Ich bin eigentlich ganz anders, ich komme nur so selten dazu.» Über diesen Ausspruch kann man lange nachdenken. Ehrlich und authentisch zu sein, offen zu sagen, was man denkt oder fühlt – wie oft gelingt einem das schon? Wann traut man sich das? Wann darf man es überhaupt? Eben: viel zu selten. In eine fremde Haut zu schlüpfen, finde ich deshalb gar nicht so reizvoll. Aber ein Jahr lang mal «ganz anders» zu sein, quasi eine bessere Version von mir selbst – das wär’s!
MARK POLLMEIER