Reform ohne Praxisbezug?
12.11.2024 RegionDer Entwurf zum neuen S ozialhilfegesetz kommt nicht gut an. Der Regierungsrat will die Gemeinden stärker zur Kasse bitten, hat sie beim Revisionsverfahren aber bisher aus sen vor gelassen. Frutigens Sozialdienstleiter Markus Bieri blickt ebenfalls skeptisch auf die Vorlage – ...
Der Entwurf zum neuen S ozialhilfegesetz kommt nicht gut an. Der Regierungsrat will die Gemeinden stärker zur Kasse bitten, hat sie beim Revisionsverfahren aber bisher aus sen vor gelassen. Frutigens Sozialdienstleiter Markus Bieri blickt ebenfalls skeptisch auf die Vorlage – obwohl er eine Reform für nötig hält.
BIANCA HÜSING
«Wir haben eine andere Vorstellung von Zusammenarbeit.» Frutigens Sozialdienstleiter Markus Bieri macht keinen Hehl aus seiner Enttäuschung darüber, wie der Kanton bei der Revision des Sozialhilfegesetzes vorgegangen ist. «Normalerweise werden betroffene Stellen in Gesetzgebungsverfahren angehört. Das ist diesmal nicht passiert.» Weder die Sozialdienste noch die Gemeinden seien involviert worden – und das sei dem Entwurf nun auch deutlich anzumerken. An mehreren Stellen zeige sich, dass keine Praxiserfahrungen eingeflossen seien und die geplanten Massnahmen an der Realität vorbeizielten.
Dafür erhielt Pierre Alain Schneggs Direktion kürzlich die Quittung. Im Vernehmlassungsverfahren, das bis Mitte Oktober lief, hagelte es von allen Seiten Kritik. Auch die SVP, die eigentlich positiv zur Vorlage steht, bemängelt den Nichteinbezug der Gemeinden. Insgesamt 187 Rückmeldungen sind gemäss Markus Bieri eingegangen und müssen nun von der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) ausgewertet werden. Das Verfahren dreht dadurch eine Extrarunde, die man sich möglicherweise hätte sparen können. Immerhin sollen jetzt aber die Berner Konferenz für Sozialhilfe (BKSE) und der Verband Bernischer Gemeinden beteiligt werden. Als BKSE-Vorstandsmitglied ist Markus Bieri mit von der Partie.
Erleichterung durch gemeinsame IT
Grundsätzlich findet auch er, dass das Sozialhilfegesetz von 2001 einer Reform bedürfe. Eine gute Neuerung sei zum Beispiel, dass Sozialhilfebezüger, die ihren Lebensunterhalt wieder selbst bestreiten können, ihre Sozialhilfe nicht mehr mit ihrem Lohn zurückzahlen müssen. Damit will der Kanton den Anreiz erhöhen, wieder Arbeit aufzunehmen. «Das ist ein fortschrittlicher Ansatz», meint Bieri. Besonders begrüsst er aber die Einführung einer einheitlichen IT-Lösung für alle Sozialdienste, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) sowie für Anbieter von Arbeitsintegrationsmassnahmen. Es sei zwar eine Mammutaufgabe, knapp 90 Institutionen mit dem neuen Fallführungssystem auszustatten, doch am Ende werde es allen die Arbeit erleichtern.
Mehraufwand durch Selbstbehalt
Dieser Effekt würde aber möglicherweise durch eine andere Massnahme wieder zunichtegemacht: das Selbstbehaltmodell. Künftig sollen Gemeinden mit besonders hohen Sozialausgaben stärker zur Kasse gebeten werden als bisher. Zwar bleibt es dabei, dass der Kanton und die Gemeinden je hälftig für die Sozialhilfe aufkommen und dass der Gemeindeanteil über den Lastenausgleich abgerechnet wird. Nach der Reform soll aber jede Gemeinde zusätzlich einen Selbstbehalt zahlen, den nur Gemeinden mit niedrigen Sozialausgaben später wieder zurückbekommen. Dieses Modell soll die Sozialdienste dazu motivieren, effizienter zu arbeiten und Kosten zu sparen. Das Frutigland mit seiner geringen Sozialhilfequote würde davon zwar profitieren, dennoch ist Bieri skeptisch. «Die 66 bernischen Sozialdienste sind völlig heterogen. Manche sind nur für Sozialhilfe zuständig, andere übernehmen zusätzlich kommunale Aufgaben. Das alles aufzuschlüsseln und daran die Effizienz einzelner Sozialdienste zu bemessen, würde einen enormen Verwaltungsaufwand bedeuten.» Hinzu komme, dass so ein Bonus-Malus-System schon einmal ausprobiert worden und gescheitert sei (siehe Kasten).
Unverhältnismässigen Mehraufwand erwartet Bieri auch von den geplanten Kürzungen für Sozialhilfebezüger aus dem Ausland. Wer sechs Monate nach dem Erstbezug keine hinreichenden Deutschkenntnisse vorweisen kann, soll bis zu 30 Prozent weniger Sozialhilfe bekommen. Nebst einem Prüfsystem bräuchte es dafür aus Bieris Sicht auch Härtefallklauseln: «Manche Bezüger kommen aus Ländern ohne Schriftkultur, andere sind traumatisiert. Das darf man nicht ausser Acht lassen.»
Aus 66 mach 12?
Weiterer Sprengstoff verbirgt sich nicht im Gesetzesentwurf selbst, sondern in den Kommentaren dazu. «Darin wird angedeutet, die Anzahl der Sozialdienste von 66 auf 12 zu reduzieren. Sollten wirklich solche Kahlschläge geplant sein, müssten wir aber zwingend involviert werden.» Denn ohne Praxisbezug könne man nicht beurteilen, ob grössere Einzugsgebiete sinnvoll seien oder nicht. «Ähnliches hat man bei der Pflegekinderaufsicht gemacht. Seit Anfang des Jahres ist der Sozialdienst Frutigen für Pflegefamilien in 20 Gemeinden zuständig und hat damit deutlich weitere Anfahrtswege.» Weil es zwischen Adelboden und Saanen nur knapp 80 Pflegekinderdossiers gebe, sei das bewältigbar. Würde man aber auch sämtliche Sozialdienstaufgaben über solch grosse Gebiete verteilen, sähe das aus Bieris Sicht schon anders aus. «Für Frutigen würden sich darüber hinaus noch ganz andere Fragen stellen: Was würde aus der OKJA Niesen und der Schulsozialarbeit, wenn es den Sozialdienst Frutigen nicht mehr gäbe? Müssten diese sich künftig als eigenständige Vereine organisieren?» Der Sozialdienst sei ein wichtiger Träger sozialer Dienstleistungen und könne nicht auf die Sozialhilfe reduziert werden. «Grössere Organisationseinheiten können zu einer Professionalisierung führen, müssen aber nicht. Zudem sollte man nicht bewährte Unterstützungen abbauen, um kostenintensive neue Angebote zu schaffen.»
Bei aller Skepsis möchte Markus Bieri aber betonen, dass die geplante Reform auch Chancen berge – solange sie vernünftig und unter Beizug der Gemeinden und Sozialdienste aufgegleist werde. Und genau das solle ja nun geschehen.
Keine Boni für Frutigen
2012 führte der Kanton Bern ein Bonus-Malus-System ein. Aus den Kosten aller Sozialdienste errechnete er einen Durchschnittswert. Wer stark von diesem Wert abwich, musste draufzahlen oder bekam einen Bonus. Die Gemeinde Lyss, die 2014 einen Malus von 240 000 Franken hätte zahlen sollen, legte damals Beschwerde ein und bekam recht: Die GSI gelangte zur Einschätzung, dass sich das System nicht dazu eigne, verlässliche Aussagen über die Kosteneffizienz von Sozialdiensten zu machen. Der Regierungsrat hob es daraufhin wieder auf. Für den Sozialdienst Frutigen bedeutete das im Umkehrschluss, dass er auf Boni in Höhe von über 900 000 Franken verzichten musste.
HÜS