Secondhand boomt
20.01.2023 FrutigenSeit 16 Jahren führt Matthias Moser die Hiob-Brockenstube in Frutigen. In dieser Zeit hat der gelernte Schreiner viele Veränderungen erlebt. Heute ist die Einrichtung auch eine Art sozialer Treffpunkt.
KATHARINA WITTWER
«Zu der Zeit, als ich die ...
Seit 16 Jahren führt Matthias Moser die Hiob-Brockenstube in Frutigen. In dieser Zeit hat der gelernte Schreiner viele Veränderungen erlebt. Heute ist die Einrichtung auch eine Art sozialer Treffpunkt.
KATHARINA WITTWER
«Zu der Zeit, als ich die Leitung der Brockenstube übernommen habe, verkauften wir viele Antiquitäten, also Bilder mit grossen Rahmen, Nippsachen und teilweise antike Möbel. Beim Betreten des Ladens stieg einem ein muffiger Duft in die Nase», erinnert sich Matthias Moser. Aus dem aktuellen Kaufverhalten seiner Klientel zieht er den Schluss, dass sich immer mehr Menschen mit weniger begnügten. Es sei denn, sie kauften Neues – was er nicht beurteilen könne.
Auf Sauberkeit wird Wert gelegt
Auf der Website von Hiob Schweiz sind unter «Dienstleistungen» auch «Räumungen» aufgelistet. «Vieles aus den Wohnungen oder Häusern bringen wir direkt zur Kehrichtsammelstelle. Dort müssen wir Holz, Metall, Elektroschrott und weiteres Material trennen und alles separat wägen, was bis zu einer Stunde dauern kann. Diese Dienstleistung stellen wir dem Auftraggeber in Rechnung.» Das Brauchbare kommt nach Frutigen und wird hier sortiert. Textilien, die erfahrungsgemäss keine Käufer finden werden, gehen ans Hilfswerk ‹Tell-Tex›.»
Rauch- oder Stallgeruch bleiben in Polstern, Holz und Textilien haften. «Wir sind diesbezüglich sehr strikt. Dadurch konnten wir den muffigen Geruch aus dem Geschäft verbannen.» Sauberkeit und Ordnung ist dem 53-Jährigen ohnehin wichtig. Erlaubt es die Zeit, werden Regale geputzt – und fast täglich muss von den Kunden aufgefaltete Wäsche wieder drapiert werden.
Grosse Nachfrage wegen wirtschaftlich schwieriger Zeiten
Die Kundschaft in der Brocki ist vielschichtig: «Von der Prominenz bis zu Sozialhilfebezügern gehen bei uns alle ein und aus», erzählt der Filialleiter. «Die einen können sich Neues nicht leisten, andere sind möglicherweise auf der Suche nach etwas Bestimmten oder wünschen sich Dinge ‹mit Vergangenheit›.» Moser ist sich der Konkurrenz von Billigeinrichtungsketten bewusst. «Erstaunlicherweise laufen Möbel – sogar Betten mit Matratzen in Top-Zustand – momentan äusserst gut». Im Sommer und Winter hört man in den Räumen an der Falkenstrasse 13 oft Hochdeutsch, Holländisch oder Französisch und seit einigen Monaten vermehrt Ukrainisch. Die einen schmökern auch in den Ferien gerne, andere benötigen notgedrungen Winterkleider oder Wohnungseinrichtungen.
«Upcycling» und 80er-Mode
Der Trend des «Upcylings» (aus etwas Altem etwas Anderes machen) ist auch im Frutigland angekommen. Hierfür eignen sich vornehmlich Kleider, aber auch Kleinmöbel oder Europaletten. Matthias Moser und seine Angestellten – oft sind es von der Gemeinde vermittelte, ausgesteuerte Arbeitslose in einem Arbeitsprogramm – staunen ob der Jungen, die sich nach 1980er-Jahre-Mode umsehen. Wer sich in einem pinkfarbenen, violetten oder gar orangenen Overall auf der Skipiste wagt, dem ist die Aufmerksamkeit garantiert.
Erstaunlicherweise werden sogar Elektrogeräte aus zweiter Hand gekauft. Roland Schultze, der einzige männliche Angestellte und Allrounder, kontrolliert und repariert ausrangierte Unterhaltungselektronik, Haushaltsgeräte oder elektrische Bohrmaschinen. KäuferInnen erhalten auf Derartiges zwei Tage Garantie.
Sozialer Treffpunkt im Untergeschoss
Die Auswirkungen der wirtschaftlich schwierigen Zeit merkt man in der Brocki deutlich am Verhalten der Leute. «Viele, die zu uns kommen, sind psychisch angeschlagen, frustriert und entsprechend hässig. Leben sie allein oder ist ihr Umfeld zerrüttet, fehlt ihnen ein Gesprächspartner. Sich den Frust von der Seele zu reden, funktioniert im Supermarkt schlecht», stellt Matthias Moser immer wieder fest. Sofern er Zeit zum Zuhören hat oder ihm während einer Wohnungsräumung ein Kaffee angeboten wird, fühlt er sich zuweilen wie ein «Seelenklempner». Der Laden ist ungeplant zu einem sozialen Treffpunkt geworden – ohne Kaufzwang notabene. Es gibt Tage, an denen sich mehrere Personen auf den Sitzgelegenheiten im Untergeschoss aufhalten, nur weil sie Kontakt suchen. Dort ist es warm und meistens ist jemand dort zum «Dorfen». Andere holen sich ein Buch aus dem Gestell und vertiefen sich in die Lektüre.
Mehr zur Brockenstube Frutigen finden Sie unter www.frutiglaender.ch in der Rubrik Web-Links.
ZUR PERSON
Matthias Moser wurde 1970 in Frutigen geboren und ist dort aufgewachsen. Nach seiner Lehre zum Schreiner arbeitete er einige Jahre bei einer Firma für Küchenbau. Vor 16 Jahren übernahm er die Leitung der Hiob-Brockenstube. Er ist verheiratet mit Bettina und Vater zweier erwachsener Kinder. In seiner Freizeit fährt er gerne Velo oder Bike oder wandert im Gebirge. WI