Spass am Denken
08.08.2023 Bildung|SchuleXenia Schmidli hat etwas studiert, das man häufig als «Orchideenfach» bezeichnet: Philosophie. Gerade hat sie ihre Masterarbeit eingereicht, und damit wäre ihre Zeit an der Uni eigentlich vorbei. Doch die junge Frau hat noch nicht genug.
MARK ...
Xenia Schmidli hat etwas studiert, das man häufig als «Orchideenfach» bezeichnet: Philosophie. Gerade hat sie ihre Masterarbeit eingereicht, und damit wäre ihre Zeit an der Uni eigentlich vorbei. Doch die junge Frau hat noch nicht genug.
MARK POLLMEIER
Seit 2013 schreibt Xenia Schmidli für den «Frutigländer». Als 15-jähriger Teenager hatte sie damals einen Schreibwettbewerb gewonnen. Die Redaktion wurde auf sie aufmerksam und fragte sie als Kolumnistin an. Xenia Schmidli sagte zu und wurde die jüngste Autorin der damals noch jungen Zeitung.
Wer Xenia Schmidlis Texte über die Jahre verfolgte, begleitete sie gewissermassen durch ihre Jugend und ihr Erwachsenwerden. Sie schloss das Gymnasium ab, zog nach Bern um und begann dort ein Philosophiestudium, das sie zwischenzeitlich auch nach Dublin führte.
Mittlerweile hat sie ihr Studium abgeschlossen. Fast ohne sich eine Pause zu gönnen, wird Xenia Schmidli nun ein Doktorat in Angriff nehmen. Was macht ihre Begeisterung für dieses Fach aus, das von vielen belächelt oder sogar als überflüssig betrachtet wird? Worum wird es in ihrer Doktorarbeit gehen? Und welche beruflichen Perspektiven hat Schmidli vor Augen? Der «Frutigländer» hat die 26-Jährige in Bern getroffen.
Xenia Schmidli, beginnen wir das Gespräch mit drei Fragen, die Sie möglichst spontan beantworten.
Okay, ich bin gespannt.
Sie haben gerade ihr Philosophiestudium abgeschlossen. Wie nennt man Sie nun – eine Philosophin?
Vor einigen Semestern hätte ich bei dieser Berufsbezeichnung noch gezögert. Es gibt viele grosse Philosophen, mit denen ich mich gar nicht erst vergleichen möchte. Aber jetzt, nachdem ich das Fach mehrere Jahre studiert habe: warum nicht Philosophin?
Vor einigen Jahren hat es sich eingebürgert, dass Firmen sich eine «Philosophie» geben. Auf den Websites von Unternehmen findet man häufig eine Rubrik: «Unsere Philosophie», in der dann viel über Werte und Nachhaltigkeit geredet wird. Wie finden Sie das?
Grundsätzlich finde ich es gut, wenn sich jemand über das, was er tut, Gedanken macht. Aber das immer gleich Philosophie zu nennen, scheint mir tatsächlich ein bisschen unpassend.
Dritte Frage: Der Fernsehsender Arte hat eine Reihe mit dem Titel «Philosophie. Treffpunkt für alle, die Spass am Denken haben». Muss man gerne denken, wenn man Philosophie studiert?
Man sollte sicher gerne denken – aber das ist natürlich nicht alles, was das Studium ausmacht. Ausserdem ist die Denkarbeit auch Bestandteil aller übrigen Wissenschaften, also nichts, was die Philosophie exklusiv hat.
Sie haben den Begriff Wissenschaft gerade selbst ins Spiel gebracht. Die Philosophie gehört zu den Geisteswissenschaften – und die sind vielen Leuten grundsätzlich verdächtig, weil sie scheinbar nichts Handfestes hervorbringen. Was sagen sie zu solchen Vorbehalten?
Geisteswissenschaften sind das Fundament von so vielem ...
Zum Beispiel?
Denken Sie nur an Literatur, Geschichte, Politikwissenschaften. In diesen Fächern steckt so viel von unserer Kultur, schon deshalb sollten sie erhalten bleiben. Auch wenn man ihre Ergebnisse nicht jeden Tag «nutzt», so brauchen wir sie doch alle. Im Übrigen werden Geisteswissenschaften ja selten isoliert betrieben – sie sind mit vielen anderen Bereichen vernetzt.
Auch die Philosophie?
Natürlich. Die Philosophie ist mit diversen Wissenschaften verbunden, mit Physik, Jus, Biologie, Politikwissenschaften ...
Aber was konkret lernt man im Philosophiestudium? Ein Architekt kann nach seiner Ausbildung ein Haus oder eine Brücke planen, eine Ärztin Patienten behandeln. Wie ist es mit den Philosophen?
Wer Philosophie studiert, lernt, analytisch zu denken, eine Fragestellung auf eine sehr durchdachte Art anzugehen. Dazu muss man unter anderem selbstständig arbeiten können. Man muss also eine Vorstellung davon haben, was das Problem ist und wie man es am besten durchdringt.
Man erwirbt gewissermassen eine Problemlösungskompetenz?
So könnte man es ausdrücken. Was ist das Ziel? Was muss ich tun, um es zu erreichen? Was gilt es dabei zu bedenken? Solche Fähigkeiten sind in jedem Job wichtig.
Das bringt uns zur nächsten Frage: Welchen Beruf übt man aus, wenn man ausgebildete Philosophin ist? Viele sind der Ansicht, mit diesem «Orchideenfach» könne man nichts Gescheites werden.
Es gibt bei uns natürlich nicht den Beruf des Philosophen oder der Philosophin. Aber die Kompetenzen, die ich gerade genannt habe, sind ja universell. Die braucht es in vielen Berufsfeldern. Um auf die Frage zu antworten: Wer Philosophie studiert hat, kann später zum Beispiel in der Medien- oder in der Kommunikationsbranche arbeiten.
Auch in anderen Bereichen gibt es Philosophen. Der frühere Economiesuisse-Präsident Rudolf Wehrli hat seinen Doktor in Theologie und Philosophie gemacht.
Eben. Trotz seiner «Orchideenfächer» hat er sich in der Wirtschaft offenbar zurechtgefunden.
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Das Klischee besagt, dass man im Philosophiestudium vor allem herumsitzt und diskutiert. Jeder darf mal seine Meinung sagen, anschliessend geht man ergebnislos auseinander – schön, dass wir drüber geredet haben. Was ist dran an diesem Bild?
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Xenia Schmidli, was macht jemand, der Philosophie studiert? Wie muss man sich den Alltag an der Uni vorstellen?
Man muss zunächst mal sehr viel lesen, meistens sind es recht komplizierte Texte, die man vielleicht nicht auf Anhieb versteht. Viele sind übrigens in englischer Sprache verfasst. Die Seminare an der Uni sind dann tatsächlich ein bisschen wie im Klischee: Es gibt ein Thema, auf das sich alle vorbereiten, und darüber tauscht man sich aus.
Haben Sie ein Beispiel?
Ein solches Thema könnte lauten: Was ist moralische Verantwortung? Dazu haben sich schon viele Leute Gedanken gemacht. Also liest man deren Theorien und diskutiert sie dann sehr intensiv. Was spricht dafür, was dagegen, wo gibt es in einem Konzept Schwächen, was kann man widerlegen? Den Abschluss bildet dann oft eine Seminararbeit, in der man sich noch einmal mit einem bestimmten Aspekt auseinandersetzt.
Klingt recht theoretisch ...
Ja, aber so funktioniert letztlich jede Wissenschaft, ob es Philosophie ist oder Physik. Es geht immer darum, eine Theorie zu entwickeln, die dem Gegenbeweis standhält, die sozusagen wasserdicht ist und nicht mit zwei, drei Argumenten widerlegt werden kann. Wenn man einmal ein grosses Wort dafür brauchen möchte, dann geht es letztlich um Wahrheit.
Nach mehreren Jahren Studium sind Sie sicher eine geübte Denkerin. Ist es für Sie schwieriger geworden, mit anderen Leuten zu diskutieren?
(überlegt) Ja, manchmal ist es tatsächlich mühsam. Viele Leute haben eine Meinung zu einem Thema, können oder wollen diese Meinung aber nicht begründen. Oder sie werfen in einer Diskussion ständig Dinge durcheinander. Manchmal hake ich dann nach oder ich sage, dass man dieses und jenes nicht in einen Topf werfen kann.
Wie reagieren Ihre Gesprächspartner dann?
Einige sagen dann: «Ah, jetzt kommst du wieder mit deinem Philosophiezeug. Mit dir kann man gar nicht mehr normal diskutieren.» Aber ich finde: Nur so kann man überhaupt diskutieren! Einfach irgendetwas zu behaupten, ist für mich keine sinnvolle Diskussion.
Ich muss gerade an politische Debatten denken. Ist Philosophie politisch?
Sie kann es sein, wenn sie sich mit politischen Themen befasst. Ich habe mich in meiner Masterarbeit mit der Objektifizierung von Menschen auseinandergesetzt.
Das müssen Sie kurz erläutern.
Objektifizieren heisst: Menschen zum Objekt machen. Das kann ein moralisch verwerfliches Verhalten sein, wie es zum Beispiel bei einer Vergewaltigung zur Anwendung kommt.
Das Opfer wird dabei zum Objekt gemacht.
Ja, es ist nur noch ein Mittel zum Zweck. Auch in der Politik kommt es vor, dass bestimmte Menschengruppen instrumentalisiert werden, etwa für Wahlkampfzwecke. Damit ist eine Entmenschlichung verbunden: Individuen werden zu einer anonymen Gruppe, zum Objekt.
Solche Beispiele, wie Sie sie genannt haben, kennt vermutlich jeder ...
... aber nicht jeder setzt sich dann vier Monate hin und schreibt eine Arbeit darüber. So etwas macht man dann zum Beispiel im Philosophiestudium.
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Viele junge Leute gönnen sich, wenn sie ihr Studium abgeschlossen haben, erst einmal eine Auszeit. Manche gehen auf Reisen, andere tun einfach eine Zeit lang gar nichts. Xenia Schmidli tut nichts von alldem. Sie bleibt an der Uni und macht quasi nahtlos weiter.
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Kaum haben Sie ihre Masterarbeit abgegeben, fangen Sie schon mit einem Doktorat an. Das ist selbst für begeisterte Studierende ungewöhnlich. Wie kam es dazu?
Schon vor einem Jahr bin ich in ein Forschungsprojekt «reingerutscht». Eine Professorin suchte eine Assistentin und wollte ganz bewusst eine Philosophin.
Sie betonen das so ...
Ja, weil diese Professorin eine Sportwissenschaftlerin ist. Sie erforscht, wie Smartwatches unser Selbstbild und unsere Körperwahrnehmung verändern.
Also jene kleinen Uhren, die heute viele am Handgelenk tragen und die alle möglichen Körperfunktionen messen können.
Genau. Von der täglichen Schrittzahl über den Puls bis zum Kalorienverbrauch.
Warum ist das ein philosophisches Thema?
Weil diese Uhren etwas mit uns machen: Sie reduzieren unser Leben auf ein paar Daten. Angenommen, ich gehe im Wald joggen oder spazieren. Da nehme ich die Umgebung wahr, Gerüche, das Wetter, vielleicht unterhalte ich mich dabei, habe ein gutes Gefühl usw. Aber alles, was die Uhr erfasst, sind ein paar Körperfunktionen. Und am Ende sagt mir dieses kleine Gerät vielleicht noch: Du hast zu wenig Schritte gemacht, du warst nicht schnell genug. Das beeinflusst, wie wir uns selbst wahrnehmen – bei manchen mehr, bei anderen weniger.
Und zu diesem Thema verfassen Sie nun Ihre Doktorarbeit?
Das ist ein Teil meines derzeitigen Jobs. Das genaue Thema steht noch nicht fest. Im weitesten Sinne wird es um körperliche Aktivität im digitalen Zeitalter gehen. Daneben werde ich meiner Professorin zuarbeiten und an der Uni auch eine Lehrfunktion haben, also zum Beispiel Seminare mitgestalten.
Wie ist der Zeithorizont? Wann müssen Sie fertig sein?
Mir wurden drei Jahre bewilligt.
Das heisst: Für Ihre Stelle – und damit auch für Ihr Doktorat – ist Geld bewilligt worden. Empfinden Sie das als Privileg?
Ja, natürlich, zumal nicht vielen eine solche Möglichkeit geboten wird. Nach dem Studium habe ich sofort ein tolles Jobangebot für die nächsten drei Jahre bekommen – ich bin glücklich, dass ich diese Chance habe.
Sie haben anfangs die grossen Philosophen erwähnt, und automatisch denkt man dabei an ältere Männer mit Bart. Sie selbst sind eine junge Frau. Ist der Weg, den Sie nun einschlagen, ungewöhnlich?
Wenn die Frage auf das Geschlecht zielt: Ja. Es studieren ohnehin nicht sehr viele Philosophie, und die meisten davon nur im Nebenfach. Unter denen, die den Masterabschluss machen, sind dann nur wenige Frauen. Wie es beim Doktorat aussieht, weiss ich nicht, aber dort dürfte der Frauenanteil noch tiefer liegen. Insofern ist mein Weg tatsächlich etwas ungewöhnlich – aber dafür umso spannender.