Wie der Kanton Bern vor 175 Jahren die Bundesverfassung annahm
12.09.2023 RegionGESCHICHTE Am 12. September 1848 wurde die Schweiz vom Staatenbund zum parlamentarischen Bundesstaat. Im Kanton Bern war die Reform zuvor intensiv diskutiert worden – zumindest im Grossen Rat. In der Bevölkerung schien das Interesse dagegen gering; im Frutigland nahm nur gut ...
GESCHICHTE Am 12. September 1848 wurde die Schweiz vom Staatenbund zum parlamentarischen Bundesstaat. Im Kanton Bern war die Reform zuvor intensiv diskutiert worden – zumindest im Grossen Rat. In der Bevölkerung schien das Interesse dagegen gering; im Frutigland nahm nur gut ein Zehntel der Stimmbürger an der Verfassungsabstimmung teil. Doch daran war auch der Zeitplan schuld.
MARK POLLMEIER
In den turbulenten Monaten vor dem 12. September wurde die neue Staatsform in den Kantonen beraten, so auch im bernischen Grossen Rat. Im Vordergrund stand dabei die Frage, wie viel Zentralisierung das Land brauche und welche Vor- und Nachteile sich daraus für den Kanton ergeben würden. Mit dieser Frage verknüpft waren die finanziellen Konsequenzen – die sich indes nur schwer einschätzen liessen. Der Berner Finanzdirektor Jakob Stämpfli prognostizierte seinem Kanton Ausfälle von etwa 400 000 Franken jährlich. Die Staatswirtschaftskommission dagegen kam auf ein Minus von lediglich 28 000 Franken. Regierungsrat Ulrich Ochsenbein errechnete sogar einen «Gewinn» von knapp 120 000 Franken im Jahr.
Auch die personellen Folgen des neuen Bundesstaats waren ein Thema. Wie solle man all die neuen Posten denn überhaupt besetzen, fragte Jakob Stämpfli in der Ratsdebatte Mitte Juli 1848. Der Kanton müsse «wahrscheinlich 25 Personen in den Nationalrath und 2 Personen in den Ständerath abgeben, sodann eine Person wahrscheinlich in den Bundesrath und eine in das Bundesgericht», rechnete der Finanzdirektor vor. «Woher wollt Ihr alle diese Personen nehmen und dann noch alle 240 Personen im Grossen Rathe, im Regierungsrathe und so weiter?»
Das Kantonsparlament sagt Ja
Auch wenn Stämpflis Voten vermuten lassen, er sei gegen den Schweizer Bundesstaat gewesen, so war er das keineswegs. Im Gegenteil: Ihm ging die Zentralisierung von Regierung Verwaltung nicht weit genug. Als sogenannter Radikaler – heute würde man ihn vielleicht einen Linken nennen – sorgte er sich, dass man den konservativen Kantonen zu sehr entgegenkommen könnte. Deswegen vertrat er mit einigen anderen im Berner Regierungsrat die Haltung, die Bundesverfassung sei in dieser Form abzulehnen.
Stämpfli gegenüber stand eine ganze Reihe von Pragmatikern, die den Ausgleich suchten und sich auf das jetzt Mögliche konzentrieren wollten. Der Spatz in der Hand sei besser als die Taube auf dem Dach, befand etwa Regierungsrat Cyprien Revel. Punkto Zentralisation lasse sich beim Volk derzeit nicht mehr erreichen, als das aktuelle Verfassungsprojekt vorsehe.
Trotz mancher Vorbehalte gegen das neue Staatswesen fiel die Ratsabstimmung am Ende deutlich aus. Mit 146 gegen 40 Stimmen votierte das Berner Kantonsparlament am 19. Juli 1848 für den vorliegenden Verfassungsentwurf. Die Befürworter des Machbaren hatten sich gegenüber kompromisslosen Radikalreformern wie Stämpfli durchgesetzt.
Nur wenige gehen abstimmen
Der Grosse Rat empfahl dem Berner Volk also, die Bundesverfassung anzunehmen. Nun ging es um die Frage, wann die Abstimmung darüber stattfinden sollte. Gemäss eidgenössischen Vorschriften musste dies vor Ende August 1848 geschehen.
Schliesslich wurde der Abstimmungstermin auf den 6. August 1848 festgesetzt. Damit war der Kanton Bern früher dran als viele andere Kantone. Doch der Zeitpunkt erwies sich als ungünstig. Gerade einmal 19 Prozent der Bevölkerung nahmen an den Abstimmungsversammlungen teil – der tiefste Wert aller Kantone. Besonders niedrig war die Beteiligung im Oberland und im Emmental (jeweils nur 11 bis 12 Prozent), am höchsten im Jura, wo sie jedoch auch nur bei rund 38 Prozent lag.
Die Männer auf der Alp
Offenbar hielten manche Regierungsstatthalter das geringe Interesse für erklärungsbedürftig. In Begleitbriefen zu den Abstimmungsprotokollen hiess es, eine «Agitation» sei weitgehend ausgeblieben und die Zeit für die Diskussion der Vorlage zu knapp gewesen. Aus dem Oberland wurde gemeldet, viele Männer seien auf der Alp, für das Emmental nannte man Erntearbeiten als Grund – oder die Sichlete, die am Vorabend des 6. August stattgefunden hatte.
Am Ergebnis änderte die geringe Resonanz freilich nichts. Mit 10 972 Jagegen 3375 Nein-Stimmen wurde die Bundesverfassung klar angenommen, freilich mit grossen Unterschieden zwischen den Regionen.
Im alten Bernbiet, zu dem auch das Frutigland gehörte, siegte die Vorlage in sämtlichen Amtsbezirken. Am eindeutigsten stimmte Trachselwald zu – mit 443:0 Stimmen. Auch Biel, Büren, Oberhasli und Wangen waren beinahe einhellig für die Verfassung. Etwas grösser war die Skepsis in den Ämtern des Oberlandes, so etwa in Interlaken (215:75), in Saanen (71:16) und Frutigen (145:36). In den Bezirken Schwarzenburg (64:38), Seftigen (230:77) und Laupen (260:37) gab es zwar klare Mehrheiten, aber doch eine gewisse Gegnerschaft.
Das Berner Schwergewicht
Der Kanton Bern hatte im neuen Schweizer Bundesstaat Gewicht. Gemäss den Vorgaben der ersten Bundesverfassung sollte ein Nationalratsmitglied 20 000 Einwohner repräsentieren. Für den ersten Nationalrat, der 1848 zusammentrat, ergab sich daraus eine Mitgliederzahl von 111.
Von diesen 111 Nationalräten stellte Bern entsprechend seinem Bevölkerungsanteil 20 – weit mehr als jeder andere Kanton und acht Männer mehr als das nächstgrössere Zürich.
Die bernischen Nationalräte wurden in sechs Wahlkreisen gewählt, die ungefähr den Kantonsteilen entsprachen. Unter den Gewählten waren auch die Berner Regierungsräte Jakob Stämpfli und Ulrich Ochsenbein. Wie die meisten, zählten sie zu den Radikalen, also den liberalen Reformern. Aber es gab auch Vertreter der Konservativen, etwa den früheren General Guillaume Henri Dufour, den das Seeland ins Parlament sandte.
Das Berner Oberland mit Thun, Interlaken, Oberhasli, Frutigen, Saanen sowie Ober- und Niedersimmental hatte damals knapp 78 000 Einwohner und stellte dementsprechend vier Nationalräte: den Arzt Johann Karlen von der Mühlematt (bei Thierachern), den Kaufmann Albert Lohner (Thun), Regierungsrat Jakob Imobersteg und Regierungsstatthalter Friedrich Seiler (beide Interlaken). Auch Seiler war, wie die meisten Nationalräte, ein Radikalliberaler.
Der konservative Umschwung
Nicht alle dürften mit dem Ergebnis der ersten Parlamentswahl zufrieden gewesen sein. Zu den Skeptikern, die der neuen Ordnung nicht trauten, gehörte auch der damalige Frutiger Pfarrer Johann Jakob Schädelin. Insbesondere die religions- und kirchenkritische Haltung der Radikalen störte den Geistlichen.
Seit 1847 erschien in Thun der «Oberländer Anzeiger», eine Stimme der konservativen Kräfte. Schädelin schrieb als Redaktor regelmässig für die kleine Zeitung – anonym. Seine Leitartikel hatten einen populären, eingängigen Stil, und sie sparten nicht mit Polemik gegen den politischen Gegner. Auf diese Weise trieb Schädelin aktiv den konservativen Umschwung voran, der sich zu den Grossratswahlen vom Mai 1850 denn auch einstellte. Hatten die Radikalen zuvor noch eine deutliche Übermacht besessen, unterlagen sie nun den neu formierten Konservativen, die im Kantonsparlament neu eine Mehrheit von 115 zu 100 Sitzen stellten.