«Wir wollen helfen, wo wir können»

  19.03.2024 Frutigen

RUMÄNIEN Seit fast zehn Jahren engagieren sich Christof und Fabienne Kaufmann-Trummer gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution. Ende März ziehen sie für einige Jahre nach Rumänien, wo sie aktiv bei der Wiedereingliederung junger Frauen mithelfen werden.

KATHARINA WITTWER
Wegen ihrer freiwilligen Einsätze im Rotlichtmilieu kennt Pflegefachfrau Fabienne Kaufmann-Trummer die Not von Frauen und Mädchen, die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution geworden sind, bestens. Weitere Einblicke bekam sie durch Iana Mateis Buch «Zu verkaufen: Mariana, 15 Jahre». Christof Kaufmann erzählt: «Nachdem wir das Buch mit grossem Interesse und Betroffenheit gelesen hatten, spürten wir, dass die Zeit gekommen war, einen weiteren Schritt in diese Richtung zu gehen.» Im Herbst 2021 fuhren sie ein erstes Mal nach Rumänien, wo sie die Buchautorin trafen. Beeindruckt von deren unermüdlichem Schaffen fassten sie den Beschluss: «Wir ziehen für einige Jahre dorthin und helfen, wo wir können.» Ein Jahr später während eines weiteren Aufenthaltes machten sie Nägel mit Köpfen.

Ende März verlässt das Ehepaar mit den Kindern im Alter von einem, zwei und vier Jahren die Schweiz. Aktuell sind sie dabei, zu packen und ihre Wohnung aufzulösen. «Wir nehmen nur mit, was in unserem Bus Platz hat. Alles andere kaufen wir vor Ort. In den Städten ist inzwischen alles erhältlich, denn viele westeuropäische Warenhaus- und Einkaufsketten haben dorthin expandiert», erklärt der Familienvater.

Iana Mateis unermüdlicher Kampf
Damals noch Studentin, war Iana Matei 1989 bei der Rumänischen Revolution gegen das Ceausescu-Regime aktiv. In der Folge kämpfte sie an verschiedenen Fronten: politisch für Menschenrechte im Heimatland, nach ihrer Scheidung fürs Sorgerecht ihres Sohnes und nach ihrer Flucht ins einstige Jugoslawien, wo sie im Gefängnis landete, für den Flüchtlingsstatus in Kanada. Schliesslich wurden sie und ihr Sohn in Australien aufgenommen. Dort studierte die sprachlich begabte Frau Psychologie und engagierte sich unter anderem für Strassenkinder. Nach rund zehn Jahren kehrte sie erstmals in ihre Heimat zurück. Festzustellen, dass sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus auch in Rumäniens Grossstädten viele Kinder auf der Strasse durchschlagen, war für sie ein Weckruf. Das Schicksal von Strassenkindern und besonders von jungen Frauen, die sich mit viel Glück aus der Zwangsprostitution befreien konnten, zwang Matei zum Handeln. Mit Spenden aus aller Welt gründete sie den Verein «Reaching Out Romania» (ROR).

Es ist eine traurige Tatsache, dass Menschenhändlerringe in Rumänien zu den am besten organisierten «Unternehmen» gehören. Ganze Familienclans – mehrheitlich Mitglieder der ohnehin schon unterdrückten Roma – mischen mit, indem sie Mafiabossen junge Mädchen vermitteln. Mit falschen Versprechungen werden die Opfer oft nach Westeuropa geschleust. Auch die Schweiz gehört zu den grossen Abnehmerländern. Was diese Mädchen körperlich und seelisch durchmachen müssen, entzieht sich jeglicher Vorstellungskraft. Gelingt die Flucht, kommen sie in der Regel nicht weit, denn die Arme der Zuhälter reichen weit. Todesdrohungen sind nur eine von vielen möglichen Einschüchterungsmassnahmen, Morde sind nicht selten. Polizei, Richter, Anwälte und sogar Regierungsmitglieder stehen vielfach auf der Seite der Verbrecher und sind Teil des lukrativen Räderwerkes.

Aufbau eines ersten Schutzhauses
Iana Matei merkte bald einmal, dass ehemaligen Zwangsprostituierten in der Heimat jegliche Perspektive fehlt. In ihre Familien zurückkehren können sie selten, denn diese sind oft Teil der Mafia. Häufig werden sie von den Zuhältern und deren Helfern aufgestöbert und zurückgebracht.

Mit den Spendengeldern eröffnete Iana Matei in Pitesti, einer Stadt im Süden des Landes mit ca. 200 000 Einwohnern, ein Schutzhaus für Kinder aus der Zwangsprostitution. Mädchen und junge Frauen – einige schwanger von irgendeinem Freier oder bereits Mütter – zusammen in einem Haus unterzubringen, sie zu «überwachen» und vor Eindringlingen zu schützen, ist eine Herkulesaufgabe. Schon der Besuch der Schule birgt viele Gefahren. Sofern ein Mädchen Vertrauen in Mitmenschen aufgebaut hat, gelingt im besten Fall eine Reintegration in die Gesellschaft. Da viele nur Gewalt und sexuelle Ausbeutung kennen, ist die Gefahr gross, erneut auf der Strasse oder bei ihrem Zuhälter zu landen. Mitarbeiterinnen zu rekrutieren, die dem Druck der Schützlinge standhalten, ist schwierig.

Auf den letzten Seiten des Buches ruft die Autorin zu Unterstützung aus dem Inund Ausland auf. Dieser Hilferuf bewog Kaufmanns, Iana Mateis weiterführendes Projekt vor Ort mitzugestalten.

Ein neues Hotel als geschützter Arbeitsplatz
Christof Kaufmann studierte Facilitymanagement, arbeitete in verschiedenen Hotels und im Tourismus. Vergangenen Dezember verliess er das Frutigresort, dessen Auf- und Umbau er geleitet hatte. Ein Hotel aufzubauen, ist für den in Deutschland geborenen Auslandschweizer somit nichts Neues. Kaufmanns wandern allerdings nicht aus, sondern lassen sich von der Stiftung ICA (International Christian Aid mit Sitz in Münsingen) «entsenden». Dieser Status ist vergleichbar mit dem von Diplomaten. «Wir freuen uns sehr auf die vorgesehenen sechs Jahre», so Kaufmanns. Bereits jetzt lernen sie Rumänisch im Selbststudium und haben die Fühler nach Sprachunterricht ausgestreckt. Die Kinder werden die lokalen Schulen besuchen. Ihr neues Zuhause neben dem Schutzhaus haben sie vergangenen Sommer inspiziert.
Frauen, die im Schutzhaus erfolgreich «aufgepäppelt» werden können, brauchen eine Perspektive, doch ohne Ausbildung können sie nur schlecht bezahlte Hilfsarbeiten erledigen. In den städtischen Gebieten gibt es inzwischen Arbeitsplätze, dennoch reisen viele gut ausgebildete junge Menschen nach Westeuropa aus. Auf dem Land dagegen scheint das Leben vor geschätzt 200 Jahren stehen geblieben zu sein.

In den Karpaten ist der Tourismus im Kommen. Diese Chance will Iana Matei ergreifen, weswegen sie dort vor einigen Jahren Land erwarb und mit dem Bau eines Hotels begann. Der Bau wurde aber nicht vollendet, heute steht dort eine Bauruine. «Es ist geplant, das Hotel fertig zu bauen. In diesem werden die Frauen arbeiten können. Meine primäre Aufgabe wird die Koordination der Bauarbeiten sein», erklärt Kaufmann. Leider ging letzten Sommer direkt oberhalb dieser Parzelle ein Erdrutsch nieder. Nun muss erst abgeklärt werden, ob ein Weiterbau an dieser Stelle verantwortbar ist. Land und Bauruinen zu erwerben, ist in den dünn besiedelten Karpaten eine Sache von wenigen Wochen, sofern Geld vorhanden ist.

Kaufmanns sind dankbar für Spenden, die sie für das Projekt unter anderem aus der EU, von Kirchgemeinden oder von Privatspendern erhalten haben. Weitere Fundraising-Aktivitäten sind aufgegleist. Um steuerfrei Spendengeld zu sammeln, gründeten sie den Verein Perspective Est. Auf dessen Website werden sie laufend über den Fortgang ihres Projektes berichten.

Weiterführende Informationen finden Sie unter www.frutiglaender.ch im Bereich Web-Links.


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