Frutigens letzte Samariter
29.05.2018 Frutigen, Gesellschaft, GesundheitÜberalterung und kostspielige Auflagen zwangen die Samariter zu einem schwierigen Entschluss. Letzten Freitag lösten sie ihren Verein auf und verteilten das verbliebene Vermögen.
BIANCA HÜSING
Wenn jemand stirbt, gibt es je nach Kultur und Glaubensart Rituale für ...
Überalterung und kostspielige Auflagen zwangen die Samariter zu einem schwierigen Entschluss. Letzten Freitag lösten sie ihren Verein auf und verteilten das verbliebene Vermögen.
BIANCA HÜSING
Wenn jemand stirbt, gibt es je nach Kultur und Glaubensart Rituale für die Zurückgelassenen – eine Predigt, einen Leichenschmaus, eine Trauerfeier. Was aber passiert, wenn nicht ein Mensch, sondern ein Verein zu Grabe getragen wird? Ganz vergleichbar ist das freilich nicht, der Verlust einer Person erscheint um Längen tragischer. Doch auch eine Vereinsauflösung kann zur emotionalen Angelegenheit werden – je nachdem, wie intensiv man mit ihm verbunden war. Chrige Tschanz zum Beispiel hat einen wesentlichen Teil ihres Lebens im Samariterverein Frutigen gewirkt. 22 Jahre lang war sie dessen Präsidentin und in jeder Hinsicht tragende Säule. So kann sie an diesem Abend die eine oder andere Träne nicht unterdrücken – etwa, als Hanspeter Tschanz ihr unter Applaus der Anwesenden den Ehrenpräsidentinnentitel verleiht. Eine gewisse Betrübtheit ist während des ansonsten fröhlichen «Leichenschmauses» auch bei den übrigen Mitgliedern auszumachen: Die eine vermisst das längst verschwundene Ritual des gemeinsamen Singens, der andere hat «ein bisschen Mühe damit», den Samaritern nach jahrzehntelanger Treue für immer Lebewohl sagen zu müssen – denn ein erneuter Vereinswechsel kommt für den 80-Jährigen nicht mehr infrage.
Viel Arbeit auf wenigen Schultern
Doch bei aller Wehmut muss der Vereinstod an diesem Tag formal beschlossen werden. Der ausserordentliche Termin wurde bereits an der letzten Hauptversammlung festgelegt, die Teilnahme an der Sitzung ist verpflichtend. «Ihr alle wisst, warum wir heute hier sind, kennt die verschiedenen Gründe dafür.» Tschanz geht pragmatisch an die Sache. Sie weiss schlicht und einfach, dass die Auflösung unausweichlich wurde. Wie andere lokale Ableger des Schweizerischen Samariterbunds (SSB) kämpfte auch jener in Frutigen mit zunehmendem Mitgliederschwund. Als Tschanz vor 25 Jahren dazustiess, zählte der Verein noch knapp 40 Personen. Heute sind es 14. «Die Leute werden älter und aus den jüngeren Generationen kommt niemand mehr nach», erzählt Tschanz im Vorfeld der Sitzung. Das älteste Mitglied – eine 95-jährige Frau – war noch bis 2016 voll dabei, musste sich dann aber verständlicherweise aus dem aktiven Vereinsleben zurückziehen. Sie wohnt der Auflösung ebenso bei wie das jüngste Mitglied, der 34 Jahre alte Kassier und Sohn der Präsidentin. An ihm, seinem älteren Bruder sowie Mutter Tschanz blieb denn auch die meiste Arbeit hängen: Rund sieben Wochenstunden zählt allein das Engagement der Präsidentin. «Zuletzt hielt sich die Aktivität der Mitglieder immer stärker in Grenzen», bedauert die Frutigerin. Fast vollzählig war man zuletzt beim gemeinsamen Abschiedsausflug ins Südtirol. Doch übel nimmt Tschanz es ihren MitstreiterInnen nicht. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben auch ihr die Freude am Samariterwesen verdorben.
Segen und Fluch der Professionalisierung
Denn mehr noch als am Nachwuchsmangel krankte es aus Sicht der Präsidentin woanders: in Olten. Hier sitzt der SSB – jener Dachverband, dem alle Samaritervereine unterstehen. In den letzten Jahren seien immer unrealistischere Auflagen von dort gekommen. Auflagen, die dem kleinen Verein in Frutigen ohnehin den finanziellen Todesstoss verpasst hätten. Eine Baby-Wiederbelebungspuppe pro vier Kursteilnehmer (zwischen 1500 und 4000 Franken pro Exemplar) sowie eine massive Aufrüstung bei den Defibrilatoren – das geht ins Geld. «Wir haben letztes Jahr ausgerechnet, was die neuen Vorgaben uns insgesamt gekostet hätten: 15 000 Franken. Das ist vollkommen unrealistisch, und zwar nicht nur für uns», sagt Tschanz mit Blick auf die Nachbarvereine, mit deren Auflösung sie früher oder später ebenfalls rechnet.
Zuerst sei die Professionalisierung ein Segen für die Samariter gewesen. Dank besserer Ausbildung und Zusammenarbeit mit den Rettungsdiensten hätten die Samariter in den 90er-Jahren einen wichtigen Imagewechsel erfahren. «Endlich wurde den Leuten klar, dass wir mehr können als Tee kochen», so die Frutigerin. «Bis nach einem Unfall der Rettungsdienst eintrifft, leisten Samariter optimale Erstversorgung. Und anders als zum Beispiel Krankenpfleger können sie auch ausserhalb eines geschützten Raumes arbeiten.» Doch die weitere Professionalisierungs-Tendenz der letzten Jahre geht nicht nur Tschanz zu weit. Im Februar haben die Kantonalverbände Kritik an der neuen Samariterpolitik geäussert. Der SSB habe den Bogen überspannt, die Mitglieder wollten schliesslich keine Rettungsassistenten sein. In Olten versprach man daraufhin ein offenes Ohr für die Anliegen der Verbände. Für die Frutiger käme ein wie auch immer geartetes Zugeständnis jedoch zu spät.
«Irgendwann wird man müde»
«Der Moment ist gekommen», verkündet die frisch gekürte Ehrenpräsidentin Chrige Tschanz vor den versammelten Mitgliedern. Nach deren einstimmigem Beschluss zur Auflösung erklärt sie: «Ab jetzt besteht kein Verein mehr mit dem Namen ‹Samariterverein Frutigen›.» Dieser recht trockene Satz bewirkt in den Gesichtern der Mitglieder manch traurige Regung. Zuvor mussten diese noch darüber befinden, wohin das verbliebene Vermögen von rund 20 000 Franken geht. Wie es das Gesetz und die SSB-Regeln vorschreiben, muss das Geld anderen steuerbefreiten und gemeinnützigen Organisationen zugute kommen. Die Frutiger haben sich für die benachbarten Samaritervereine entschieden und verteilen den Rest auf Institutionen wie die ArWo Frutigland, die Familienkooperation Oberland oder die Stiftung Bad Heustrich. Die Tätigkeiten der Samariter – auch das verlangt das Regelwerk – werden ebenso «vererbt». Die Blutspende übernimmt der Frauenverein Frutigen, Nothelferkurse und Postendienste an Frutiger Anlässen werden vom Sanitätsteam Adler unter der Leitung von Hanspeter Tschanz durchgeführt. Die Reichenbacher kümmern sich um die Samaritersammlung.
Nach dem Begräbnis des Vereins kommt es zum Ritual des Schenkens. Jedes Mitglied erhält eine hölzerne Pfeffermühle mit dem eingravierten Logo der Frutiger Samariter und den Worten «Herzlichen Dank für die gemeinsamen Jahre». Der Vorstand bekommt personalisierte Thermoskannen. «Ich habe gern als Präsidentin und auch als Mitglied gewirkt», bekennt die gesundheitlich angeschlagene Chrige Tschanz. «Aber irgendwann wird man müde.» So wird sie denn auch wie die meisten Anwesenden ihre Samariter-Karriere an den Nagel hängen. Doch nach all ihren gemeinsamen Erlebnissen wollen die «Hinterbliebenen» nicht einfach getrennte Wege gehen. So fragt denn ein Mitglied: «Treffen wir uns noch ab und zu?» Und alle sind sich einig: «Das werden wir.»
Die Samariter
Die Samariterbewegung hat ihren Ursprung im 19. Jahrhundert, als der Militärsanitätsverein Bern gegründet wird und wenige Jahre später der erste Samariterverein der Schweiz. Während der Industrialisierung wurden die Bevölkerungskurse der Samariter eine wichtige Ergänzung zur Arbeit der (zu wenigen) Ärzte. Seit 1977 ist der von Samaritern angebotene Nothilfekurs für Fahrschüler obligatorisch, seit 1993 geben die Samariter auch Kurse in Herz-Lungen-Wiederbelebung. Den Samariterverein Frutigen gibt es seit 1902. Ein 100-Jahr-Jubiläum wurde jedoch nicht gefeiert, weil es zwei Unterbrüche in der Vereinsgeschichte gab – unter anderem während des Ersten Weltkriegs. Bei grösseren Anlässen stellt der Samariterverein vor Ort einen Postendienst, um Erste Hilfe leisten zu können. Auch organisiert er Blutspenden und Sammelaktionen und verteilt Blumen am Tag der Kranken. Der Begriff «Samariter» entspringt zwar einer biblischen Geschichte. Die Organisation selbst ist jedoch konfessionslos und neutral.
HÜS