JUSTIZ Seit mehr als sieben Jahren beschäftigt ein tödlicher Sturz in der Cholerenschlucht die Gerichte. Noch immer lautet die Frage: Hätte ein Adelbodner Bergführer den Unfall mit etwas mehr Sorgfalt verhindern können?

MARK POLLMEIER
Im Oktober 2011 war der Mann mit zwei Mädchen von damals 12 und 13 Jahren in die Cholerenschlucht gestiegen, um sich dort abzuseilen. Er ging mit der Jüngeren voran. Während er mit ihr an einer Abseilstelle beschäftigt war, muss die nachfolgende 13-Jährige wohl gestolpert oder mit dem Fuss eingeknickt sein. Von dem schmalen Weg in die Schlucht fiel sie auf eine sechs bis sieben Meter breite Waldböschung. Von dort rutschte sie Kopf voran in die Cholerenschlucht. Dies jedenfalls ist nach heutigem Kenntnisstand der wahrscheinlichste Unfallhergang.

Der Bergführer eilte der Abgestürzten sofort zu Hilfe. Obwohl er nur wenige Minuten später bei ihr ankam, war es zu spät. Die 13-Jährige verstarb noch während des Rega-Flugs ins Spital. Als Todesursache gilt nicht der 50-Meter-Sturz an sich. Vielmehr ertrank das Mädchen wohl in dem Bach, der durch die Cholerenschlucht fliesst.

Die Schuldfrage war rasch gestellt, der Vorwurf lautete fahrlässige Tötung. Doch die juristische Aufarbeitung zog sich lange hin. Erst im September 2017 kam es zur Verhandlung vor dem Regionalgericht Thun. Dort wurde der Beschuldigte freigesprochen. Sogar die Staatsanwaltschaft – die Verfasserin der Klageschrift – konnte keinen Verstoss gegen die Sorgfaltspflicht erkennen.

Mindestens 35 000 Franken Genugtuung gefordert
Die Mutter und die Schwester des Opfers wollten sich mit dem Urteil nicht abfinden und zogen den Fall weiter. Am Dienstag und Mittwoch wurde der tragische Unfalltod nun vor der 2. Strafkammer des Berner Obergerichts verhandelt. Die Frage, die es zu klären galt, war dieselbe wie im ersten Prozess: Hätte der Tod der 13-Jährigen verhindert werden können?
Die Rechtsvertreter der Angehörigen beantragten erneut, der Bergführer sei wegen fahrlässiger Tötung schuldig zu sprechen, zudem seien ihm die Verfahrenskosten aufzuerlegen. Der Anwalt der Mutter forderte ausserdem einen Schadenersatz von 3500 Franken, mit dem «ein würdiger Grabstein» für ihre Tochter bezahlt werden solle, sowie eine Genugtuung von mindestens 20 000 Franken plus Zinsen. Ähnlich der Anwalt der Schwester: Auch er forderte eine Genugtuung von 15 000 Franken zuzüglich Zinsen.

Letzteres ist ungewöhnlich. Üblicherweise gesteht die Rechtsprechung ein solches «Schmerzensgeld» nur den allernächsten Verwandten, in diesem Fall den Eltern, zu. Hier aber liege der Fall anders, argumentierte der Rechtsanwalt. Obwohl die Verstorbene nicht mehr im selben Haushalt lebte, hätten sie sich sehr nahegestanden. Seine Mandantin – deutlich älter als die Verstorbene – sei lange so etwas wie eine Ersatzmutter für die 13-Jährige gewesen. Die Forderung einer Genugtuung sei deshalb angemessen.

Staatsanwaltschaft bejaht die Fahrlässigkeit
Den grössten Unterschied zum Prozess vor dem Regionalgericht machte der Antrag des stellvertretenden Generalstaatsanwalts. Hatte seine Kollegin in Thun noch auf Freispruch plädiert, beantragte er nun, den Bergführer schuldig zu sprechen. Den Tatbestand der Fahrlässigkeit sah er erfüllt, wenngleich sie in diesem Fall nicht allzu schwer wiege. Diese Einordnung schlug sich auch im geforderten Strafmass nieder: Eine bedingte Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 130 Franken (total 11 700 Franken) bei einer Probezeit von 2 Jahren. Der Beschuldigte sei allein durch das Verfahren schon gestraft, so der Staatsanwalt. «Es gibt in solchen Fällen nur Verlierer.» Kritisch sah die Staatsanwaltschaft die Forderungen der Schwester. Es müsse bezweifelt werden, dass zwischen ihr und der Verstorbenen eine so starke Beziehung bestanden habe wie angegeben. Zudem sei diese Beziehung auch erst recht spät in den Prozessverlauf eingebracht worden. Die Schwester komme deswegen als Zivilklägerin nicht infrage, so die Überzeugung des Staatsanwalts. Sprich: Eigentlich könnte sie gar keine Ansprüche geltend machen.

Auch der Verteidiger des Bergführers beantragte anschliessend, die Forderungen der Angehörigen abzuweisen. Sein Mandant sei vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freizusprechen, die Verfahrenskosten dem Kanton Bern aufzuerlegen.

Passte das Dreieck?
Vor den Plädoyers der Anwälte und der Staatsanwaltschaft war das Beweisverfahren durchgeführt worden. Zwar konnte sich das Obergericht auf die Unterlagen des Regionalgerichts in Thun stützen. Doch in einem weitergezogenen Verfahren geht es gerade um die neuen Erkenntnisse, um Informationen, die im ersten Prozess möglicherweise noch nicht vorlagen. Wie schon das Regionalgericht hatten also auch die drei Oberrichter zwischenzeitlich die Cholerenschlucht erkundet, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Weil sie das erste Expertengutachten in Teilen für unzulänglich hielten, liessen sie von einem erfahrenen Bergführer ein zweites anfertigen.

Während die Beweiserhebung insgesamt wenig Neues zutage brachte, nahm das Gutachten im Verlauf des Prozesses eine Schlüsselfunktion ein. Man könne für eine bestimmte Stelle oder einen bestimmten Wegabschnitt keine allgemeingültigen Regeln aufstellen, so der Gutachter während der Befragung. Es gebe immer drei Variablen: Gelände – Verhältnisse – Mensch. Ein steiler Hang sei trocken vielleicht unproblematisch, bei nassem Wetter aber heikel. Mit einem trainierten Wanderer könne man andere Wege bewältigen als mit einem unsicheren Anfänger. Es sei Aufgabe eines Bergführers, solche Einschätzungen vorzunehmen. Das Dreieck aus Gelände – Verhältnisse – Mensch müsse zusammenpassen – «sonst muss der Bergführer etwas ändern».

Hätte der Adelbodner Bergführer an jenem Tag im Oktober 2011 etwas ändern müssen? Die Anwälte der Familie und der Staatsanwalt waren davon überzeugt und führten dafür eine ganze Reihe von Argumenten an. Das gewichtigste: Der Bergführer, der nach eigener Aussage schon 100-mal in der Cholerenschlucht war, hätte wissen müssen, welche gravierenden Folgen ein Misstritt dort haben kann. Die Schlucht sei feucht und laubbedeckt gewesen, der Weg sei anspruchsvoll, teilweise hätten Armierungseisen aus dem Boden geragt. Von «regelrechten Stolperfallen» sprach einer der Anwälte. Es gebe in der Cholerenschlucht ein Absturzrisiko, das hatte auch der Gutachter am ersten Behandlungstag bestätigt. Dieses erachte er jedoch als sehr, sehr klein. «Wenn man vorsichtig geht, ist die Chance eines Absturzes gering.»

Das Risiko mit einfachen Mitteln verringern
Anwälte und Staatsanwalt konzentrierten sich jedoch darauf, dass der Bergführer das Risiko mit einfachen Mitteln hätte verringern können – etwa durch klare Informationen über die Tiefe der Schlucht oder durch eine Besichtigung von der anderen Seite her. Die bergunerfahrenen Mädchen, so die Argumentation, hätten dann besser einschätzen können, worauf sie sich einlassen. Immer wieder wurde auch die Möglichkeit des Anseilens vorgebracht, wodurch der Absturz gar nicht stattgefunden hätte.

Mehrfach zitierten Anwälte und Staatsanwalt in ihren Plädoyers die zuvor beschriebene Einheit von Gelände – Beschaffenheit – Mensch. Ihr Fazit: In dieser konkreten Situation passte das beschriebe Dreieck nicht zusammen. Dass der erfahrene Bergführer vor dem Begehen der Schlucht mit den Mädchen im Adelbodner Adventure-Park geübt hatte, dass es dort keinerlei Probleme gab und die beiden einen guten, kompetenten Eindruck machten – vor allem die beiden Anwälte überzeugte das nicht. Die Cholerenschlucht sei eben etwas völlig anderes als das Abseilen in einem Klettergarten.

Kritik an Spekulationen zum Unfall
«Nicht immer trägt in solchen tragischen Fällen jemand eine Schuld», gab der Verteidiger zu bedenken. Der Bergführer habe an jenem Tag angemessen gehandelt. Die Mädchen seien ermahnt worden, langsam und vorsichtig zu gehen, sie seien instruiert worden, auf ihre Füsse zu achten. Die damals 12-jährige Begleiterin habe im ersten Prozess ausgesagt, sie hätten vor der Schlucht keine Angst, aber durchaus Respekt gehabt. Das zeige doch, dass ihnen die Herausforderung durchaus bewusst gewesen sei. Überdies habe es keine erkennbaren Anzeichen gegeben, dass die Mädchen dem Abstieg in die Schlucht nicht gewachsen sein könnten. Hätte es solche Zeichen gegeben, hätte der Bergführer sicher anders gehandelt – «aber es gab keine erkennbaren Gründe, nicht in die Schlucht zu gehen». Insofern habe in der konkreten Situation auch keine Notwendigkeit bestanden, die Mädchen anzuseilen. Dies mit dem heutigen Wissen einzufordern, sei nicht statthaft. «Nach zwei Ortsbegehungen und zwei Gutachten ist man immer schlauer.»
Der Verteidiger betonte auch, dass manches, was im Prozess vorgebracht wurde, spekulativ sei – etwa, dass eines der Armierungseisen den Sturz verursacht habe. Über solche Details wisse man schlichtweg nichts. «Ausser dem zweiten Mädchen und dem Beschuldigten ist niemand von uns dabei gewesen.»

Das letzte Wort hatte wie stets der Beschuldigte, und im Gegensatz zu den mehr als einstündigen Plädoyers seiner Vorredner beschränkte er sich auf zwei Sätze. Egal, wie der Prozess ausgehe, «es gibt hier keine Gewinner», sagte der knapp 50-Jährige. «Ein lustiger, junger, liebenswerter Mensch hat sein Leben verloren, und wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen.»

Die Urteilseröffnung ist auf Freitag, 25. Januar, 15 Uhr angesetzt.

Das entscheidende Dreieck

Image Title

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Ja. Ich benötige ein Abo.

Article

Image Title