Wie der Wille sich äussern kann
13.12.2019 Frutigen, Analyse, PolitikAn der Frutiger Gemeindeversammlung vom vergangenen Montag winkten die Stimmbürger alle Geschäfte durch, Wortmeldungen gab es nur spärlich. Demokratie zum Einschlafen? Könnte man meinen. Doch der Eindruck täuscht.
Das kantonale Gesetz beschreibt es in juristischer ...
An der Frutiger Gemeindeversammlung vom vergangenen Montag winkten die Stimmbürger alle Geschäfte durch, Wortmeldungen gab es nur spärlich. Demokratie zum Einschlafen? Könnte man meinen. Doch der Eindruck täuscht.
Das kantonale Gesetz beschreibt es in juristischer Nüchternheit: «Die Stimmberechtigten sind das oberste Organ der Gemeinde. Sie äussern ihren Willen an der Gemeindeversammlung.» Wie diese Willensäusserung geschieht, ist allerdings unberechenbar – und erstaunlich vielfältig. An manchen Gemeindeversammlungen wird leidenschaftlich diskutiert, mit mehreren Beteiligten inklusive des Gemeinderats. Es kommt vor, dass ein einzelner Bürger mit seinem Votum ein Traktandum regelrecht versenkt. Manchmal rückt eine bestimmte Interessengruppe in Vereinsstärke an und sorgt so dafür, dass «ihr» Anliegen durchkommt.
Die Regel ist all das nicht. Viel häufiger sind jene Versammlungen, an denen die Traktandenliste zügig abgearbeitet wird und der Souverän die Vorlagen des Gemeinderats mehr oder weniger passiv abnickt.
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Auch die Frutiger Gemeindeversammlung vom vergangenen Montag fällt scheinbar in diese Kategorie. Sechs Beschlüsse im «Gegenwert» von 1,53 Millionen Franken wurden gefasst, die meisten einstimmig. Dass die Versammlung trotzdem anderthalb Stunden dauerte, lag vor allem am Gemeinderat, der sich die Zeit nahm, jedes Traktandum ausführlich zu erläutern. Diskussionsbedarf seitens der Stimmbürger gab es dagegen kaum. Eine langweilige Versammlung also? Dagegen spricht schon die Beteiligung von fast 200 StimmbürgerInnen – ein für Frutigen durchaus stattlicher Wert, der das Kirchgemeindehaus an seine Platzgrenzen brachte. Wer die Gemeindeversammlung nur nach dem Montagabend beurteilt, vergisst aber noch etwas anderes: Die immense Vorarbeit, die in einigen der Traktanden steckte.
Beispiel Tellenburg: Die Pläne für die Erweiterung des Vorplatzes und für den Neubau einer WC-Anlage sind nicht vom Himmel gefallen. Bis dem Volk diese erste Sanierungsetappe vorgelegt werden konnte, fanden zahlreiche Sitzungen statt. Von den kantonalen Ämtern mussten Stellungnahmen eingeholt, die Entwürfe ausgearbeitet und angepasst werden. In all diese Prozesse waren neben dem zuständigen Gemeinderat Samuel Marmet eine eigens gebildete Begleitgruppe sowie der Verein Burgfreunde Tellenburg involviert.
An einem weiteren Versammlungsbeschluss waren vorgängig verschiedene Gruppen beteiligt. Die Wohnung im Schulhaus Oberfeld soll künftig dem Kindergarten zur Verfügung stehen. Wäre es nach Eltern, Schulkommission und Schulleitung gegangen, hätte man dies schon vor einem Jahr so beschliessen können. Der Gemeinderat – und ihm folgend auch die Gemeindeversammlung – entschieden jedoch anders. Zwar wurde im Dezember 2018 ein Sanierungskredit genehmigt, die Wohnung sollte allerdings vermietet werden.
Doch Eltern, Kommission und Schulleitung blieben am Ball und reichten eine Petition ein. Der Gemeinderat befasste sich nochmals mit dem Projekt – insbesondere mit den Anmeldezahlen der kommenden Jahre – und liess sich umstimmen. Mit ein wenig Verspätung beschloss nun die Gemeindeversammlung zugunsten der Kindergärteler.
Auch das vielleicht wichtigste Geschäft des Abends hatte eine längere Vorlaufzeit: das Hochwasserschutzprojekt an der Kander. Im März 2018 hatten die Stimmbürger dessen Planung gestoppt, indem sie einen Nachkredit nicht bewilligten. Daraufhin rollte eine Begleitgruppe das Projekt neu auf. In mehreren Sitzungen erarbeiteten und «erstritten» die Gruppenmitglieder ein alternatives Schutzkonzept, das am Montag ausführlich vorgestellt wurde. Und siehe da: Einstimmig passierte dieser breit abgestützte Entwurf die Versammlung. Fazit: Demokratisches Engagement und Bürgerbeteiligung lassen sich nicht ausschliesslich am Verlauf eines Abends messen. In den genannten Fällen fand die Meinungsbildung schon vor der eigentlichen Versammlung statt. Zum Glück, muss man sagen, denn so ausführlich, wie etwa die Begleitgruppe Hochwasserschutz ihre Projekte debattierte, hätte man dies am Montagabend nie und nimmer tun können. Weil an diesem vorgeschalteten Diskussionsprozess aber viele beteiligt waren, hatten die Stimmbürger trotzdem Vertrauen in den Antrag des Gemeinderats. Ein Vertrauen, das zuvor offenbar noch gefehlt hatte.
Diesen Umstand griff auch der einzige Redner auf, der sich im Traktandum Hochwasserschutz zu Wort meldete. Man möge künftig doch eher auf das Instrument einer Begleitgruppe zurückgreifen, so seine Anregung an den Gemeinderat. Damit könne man bei solch komplexen Projekten Extraschlaufen und Zeitverluste vermeiden.
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Zurück zum Bernischen Gemeindegesetz. Die Stimmberechtigten äussern ihren Willen an der Gemeindeversammlung – stimmt das denn? Ja und nein. Natürlich hat die Versammlung das letzte Wort, ganz gleich, wie viele BürgerInnen daran teilnehmen und wie viel oder wenig dort diskutiert wird. Die Versammlung ist der Ort, an dem entschieden wird.
Doch auch ausserhalb dieses Orts gibt es vielfältige Möglichkeiten, sich eine Meinung zu bilden und seinen Willen einzubringen, sei es in Kommissionen, in Begleitgruppen oder mittels direktdemokratischer Instrumente. Die letzte Frutiger Gemeindeversammlung zeigt, wie gross dabei das Zeitfenster ist: Selbst bereits gefasste Beschlüsse sind nicht unumstösslich. Insofern könnte der Text des Gesetzes eigentlich erweitert werden: «Die Stimmberechtigten äussern ihren Willen auch an der Gemeindeversammlung.»
Diese Änderung müsste dann allerdings an anderer Stelle beschlossen werden.
Was in Frutigen beschlossen wurde
• Die Gemeindesteueranlage von 1,85 und die Liegenschaftssteueranlage von 1,3 Promille der amtlichen Werte bleiben unverändert. Beim Budget 2020 würde der allgemeine Haushalt beim operativen Ergebnis ein Minus von fast 600 000 Franken ausweisen. Durch Entnahmen aus der finanzpolitischen Reserve und aus der Spezialfinanzierung «Unterhalt von Liegenschaften des Verwaltungsvermögens und Baulanderschliessungen» konnte der Versammlung jedoch ein ausgeglichener Haushalt vorgelegt werden. Dieser wurde einstimmig genehmigt.
• Ohne Gegenstimmen gaben die Stimmbürger grünes Licht für die Erneuerung der IT-Anlage in der Gemeindeverwaltung. Beantragt waren dafür 156 000 Franken und jährlich wiederkehrende Kosten von 103 000 Franken.
• Ebenfalls einstimmig wurde ein Kredit von rund 400 000 Franken zur Neuanschaffung eines Kleintanklöschfahrzeugs bewilligt (Ersatz für den in die Jahre gekommenen «Duro»).
• Die Tellenburg erhält nach dem Willen der Stimmbürger für 350 000 Franken eine zeitgemässe WC-Anlage, zudem soll der Vorplatz attraktiver gestaltet werden. Die Gemeinde selbst zahlt netto lediglich 200 000 Franken, den Rest wird der Tellenburg-Verein beisteuern.
• Im Schulhaus Oberfeld werden Dach und Wohnraum saniert, hierfür bewilligte die Versammlung einen Kredit von knapp 295 000 Franken. Weil die Wohnung künftig dem Kindergarten zur Verfügung steht, verzichtet die Gemeinde auf entsprechende Mieteinnahmen.
• Mit der Zustimmung zu einem Verpflichtungskredit über 329 000 Franken gaben die Stimmbürger grünes Licht für die weitere Planung des Hochwasserschutzes an der Kander. Das favorisierte Konzept kommt ohne eine Laufverkürzung aus, der «letzte Mäander der Kander» bleibt dadurch erhalten. Im Gegenzug müssen die Ufer in Kanderbrück moderat erhöht werden.
• Etwas komplizierter ist die Lage an der Engstlige. Für das dortige Hochwasserschutzprojekt ist unter anderem ein dezentraler Holzrückhalt geplant. Dazu müssen allerdings noch Modellversuche gemacht werden; benötigt werden weitere Geldmittel von 607 000 Franken. Da bereits Kredite von 609 500 Franken gesprochen wurden, muss die neue Vorlage am 9. Februar 2020 an der Urne entschieden werden (nicht mehr in Kompetenz der Gemeindeversammlung). Auch zu diesem Projekt hat eine Begleitgruppe mehrere Schutzkonzepte geprüft, im Traktandum «Verschiedenes» informierte Rolf Künzi von der Flussbau AG ausführlich über Für und Wider der Varianten.
• Von Gemeinderatspräsident Hans Schmid wurde die Versammlung über drei Kreditabrechnungen informiert, die allesamt mit einer Kreditunterschreitung abschlossen (Sanierung Kugelfang und Trefferanzeige Schiessanlage Hubelhaus; Erschliessung unteres Widi, Anschluss Nord; Erschliessung Zwischenbäch-Gempelen, Strassenübernahme).
• Unter «Verschiedenes» erkundigte sich ein Bürger nach dem Stand in Sachen Parkplatzbewirtschaftung, die von der Gemeinde seit Jahren in Planung sei. Der zuständige Gemeinderat Bernhard Rubin informierte darüber, dass die öffentliche Mitwirkung zur Parkplatzbewirtschaftung für das kommende Jahr geplant sei.
Nach der Versammlung lud die Gemeinde traditionsgemäss zu einem gemeinsamen Ausklang ein. Auf die Frage des Gemeindepräsidenten, was in der Markthalle denn geboten werde, antwortete der überraschte Gemeindeschreiber knapp: «Apéro!»
POL