Demokratie – eine Frage des Wohnorts?
18.02.2020 Landwirtschaft, AnalyseDas Ja zum Transitplatz Wileroltigen hat eine alte Wunde aufgerissen: den Stadt-Land-Graben. Mancher fordert nun eine Art Ständemehr auf Kantons ebene, um die ländlichen Regionen zu stärken. Doch besteht hier wirklich Handlungsbedarf?
Der Abstimmungssonntag vom 9. ...
Das Ja zum Transitplatz Wileroltigen hat eine alte Wunde aufgerissen: den Stadt-Land-Graben. Mancher fordert nun eine Art Ständemehr auf Kantons ebene, um die ländlichen Regionen zu stärken. Doch besteht hier wirklich Handlungsbedarf?
Der Abstimmungssonntag vom 9. Februar ist vorbei, die Entscheidungen des Souveräns sind getroffen. Wie immer gibt es Gewinner und Verlierer – und unterschiedliche Theorien darüber, wie das Ergebnis zustande gekommen ist. Im Kanton Bern wird zu solchen Gelegenheiten traditionell der Stadt-Land-Graben bemüht. Dieses Fass hat aktuell wieder die Junge SVP Kanton Bern aufgemacht, nachdem ihr Referendum gegen den Transitplatz in Wileroltigen gescheitert war. Tatsächlich ist diese Interpretation nicht abwegig: Bevor der Verwaltungskreis Bern-Mittelland ausgezählt war, galt der Transitplatz noch als abgelehnt. Sieben ländlich geprägte Verwaltungskreise hatten sich gegen den entsprechenden Kredit ausgesprochen. Doch die Agglomeration Bern mit der Stadt Bern im Zentrum kippte den Entscheid.
Haben die Städter also einer kleinen Landgemeinde ihren Willen aufgedrückt? Muss das demokratische System des Kantons nachjustiert werden, wie es etwa Nils Fiechter (JSVP) fordert? Oder hätte die Landbevölkerung nur disziplinierter an die Urne gehen müssen, wie Kilian Wyssen (SVP) findet? (Zu den Forderungen siehe Seite 3.)
Was ist Stadt, was ist Land?
So beliebt die Einteilung in Stadt und Land auch ist: Sie greift letztlich zu kurz. Wer sich die Abstimmungsergebnisse anschaut, stellt fest, dass selbst in der Agglomeration Bern keineswegs einheitlich abgestimmt wurde. Von den 64 Ortschaften haben 29 mit Nein gestimmt – vorwiegend im Agglomerationsgürtel um Bern herum. Zu diesem Gürtel gehört etwa Belp. Die 8335-Stimmbürger-Gemeinde liegt keine 10 Kilometer von der Bundesstadt entfernt – und lehnte den Transitplatz ab. Kleinstgemeinden wie Kiesen oder Jaberg sprachen sich hingegen dafür aus. Ein einheitliches Machtzentrum Bern-Mittelland gibt es also augenscheinlich nicht.
Wo aber zieht man den Graben, die virtuelle Grenze zwischen Stadt und Land? Entlang den Einwohnerzahlen? Der Kanton Bern hat neun Orte mit mehr als 10 000 Stimmberechtigen, unter ihnen die Städte Thun, Biel und Bern. Nimmt man sie alle zusammen, kommt man auf einen möglichen Stimmenanteil von 32 Prozent. Sprich: Selbst wenn sämtliche Stimmbürger der Städte und Grossgemeinden an die Urne gingen und alle das gleiche Votum abgäben, könnten sie die kleineren Orte zahlenmässig nicht überstimmen.
Bleiben noch die Verwaltungskreise für eine mögliche Grenzziehung – darauf zielt schliesslich auch die Idee des «kantonalen Ständemehrs» ab. Im Kanton Bern stehen acht eher ländliche Verwaltungskreise den zwei städtischen Biel und Bern-Mittelland gegenüber. Auch hier überwiegt mit einem Stimmenanteil von 52 Prozent die Landbevölkerung – zumindest in der Theorie. Praktisch ist es jedoch so, dass sich je nach Thema ganz unterschiedliche Allianzen bilden.
• Das Tram zwischen Ostermundigen und Bern (Abstimmung 2018) fiel zum Beispiel bei den Oberländern klar durch. Doch mit der Unterstützung des Berner Juras und des Oberaargaus wurde der Kredit letztlich angenommen.
• Die Umfahrungsstrasse im ländlichen Oberaargau (2017) genoss dagegen die Solidarität sämtlicher Verwaltungskreise.
• Im selben Jahr wurde der Asylsozialhilfekredit abgelehnt – allein der Verwaltungskreis Bern-Mittelland hatte dafür gestimmt. Biel lehnte den Kredit ab und verhalf damit der SVP zum Referendumserfolg.
Auch innerhalb der Verwaltungskreise ist man sich längst nicht immer einig. Je nach Vorlage weichen Spiez, Kandersteg und Krattigen vom rechtskonservativen Frutigen-Niedersimmental ab. Solche Gemeinden hätten letztlich das Nachsehen, wenn ein Verwaltungskreis-Mehr eingeführt würde. Ihre Stimme verlöre zusätzlich an Gewicht. Das kann wiederum nicht im Sinne der Erfinder sein, die sich ja eigentlich gerade für die Anliegen der einzelnen Gemeinden stark machen wollen.
Die Geografie ist nicht entscheidend
Dass sich je nach Vorlage unterschiedliche Mehrheiten bilden, gilt im Übrigen auch für die parlamentarische Ebene. Zu diesem Ergebnis kamen jedenfalls Forscher der Uni Bern, die 2013 mehr als 160 Abstimmungen des Grossen Rates analysierten. In den allermeisten Fällen sei nicht die Herkunft der Parlamentarier entscheidend gewesen, sondern deren Parteizugehörigkeit – oder das Alter. In gesundheits- oder sicherheitspolitischen Fragen lasse sich sogar ein übergreifender Zusammenhalt beobachten. Zwar gab es im Untersuchungszeitraum auch Vorlagen, bei denen die Kluft tatsächlich zwischen Stadt und Land verlief. In diesen Fällen habe sich jedoch oft das Land durchgesetzt – und zwar mithilfe der Agglomeration. 40 Prozent der Grossräte leben in Agglomerationsgemeinden. Dort schätzt man in der Regel die Infrastruktur der nahen Stadt, pflegt gleichzeitig aber traditionell-ländliche Werte.
Es liegt an der Wahlbeteiligung
Fazit: Der vielbeschworene Stadt-Land-Graben lässt sich weder zahlenmässig noch inhaltlich belegen. Dafür sind die Abstimmungsergebnisse der vergangenen Jahre zu wenig einheitlich. Entschieden wird je nach politischem Anliegen – und dabei kommt es eben immer wieder zu Überraschungen. Beim Transitplatz hat die Junge SVP aktuell eine Niederlage erlitten. Es gab aber auch schon gegenteilige Beispiele, man denke etwa an das Jahr 2013. Erich Hess, seinerzeit Präsident der JSVP Kanton Bern, schaffte es damals quasi im Alleingang, die Einbürgerungsbestimmungen des Kantons deutlich zu verschärfen. Bis auf den Verwaltungskreis Bern-Mittelland sagten alle Verwaltungskreise Ja zu der Vorlage – ein Erfolg, mit dem zuvor niemand gerechnet hatte.
Brauchen die ländlichen Regionen also mehr Gewicht in der kantonalen Demokratie? Wohl kaum. Sowohl bei Abstimmungen als auch im Parlament haben sie theoretisch schon jetzt eine Mehrheit. Wenn sie überstimmt werden, dann vor allem deshalb, weil die Stimmbeteiligung auf dem Land in manchen Fällen zu wünschen übrig lässt. So sehen es im Übrigen neben Kilian Wyssen auch die Frutigländer Grossräte (siehe Kasten rechts).
Die Meinung der Grossräte zur Abstimmung
Kurt Zimmermann (SVP): «Der Zufall wollte es, dass die Themen der zwei eidgenössischen Abstimmungsvorlagen die rot-grün tickende Stadtbevölkerung mehr interessierte als die Bevölkerung im ländlichen Raum. Ich erachte dies keineswegs als Stadt-Land-Graben, sondern eher als eine aktivere Mobilisierung der Städter. Das ist zu akzeptieren und den Stadtbernern mit ihren Nachbargemeinden als Pluspunkt zuzuschreiben. Daher erachte ich diesen Urnenausgang keineswegs als ein Aufzwingen der Städter an die Landbevölkerung.
In den letzten Jahren hat sich die Beteiligungsschere bei Urnenwahlen zwischen Stadt- und Landbevölkerung zum Vorteil der Städter vergrössert. Die Städter zeigen sich politisch interessierter und motivierter als auch schon. Die Landbevölkerung ist gefordert, wieder vermehrt an die Urne zu gehen und Solidarität zur bürgerlichen Politik zu zeigen.»
Martin Egger (glp): «Ich bin der Meinung, dass die Abstimmung zum Transitplatz kein Stadt-Land-Problem war. Mitentscheidend war sicher die persönliche Grundeinstellung gegenüber ausländischen Fahrenden – und die muss jeder mit sich selbst ausmachen. Auch wurde aus meiner Sicht auf dem Land zu wenig informiert, aus welchen Gründen die Realisierung dieses Standplatzes für den Kanton Bern wichtig ist. Es wäre allgemein wichtig und schön, wenn viel mehr Leute abstimmen würden. Aber wenn die Stimmbeteiligung so tief ist, dann ist das Interesse an den Abstimmungsthemen offensichtlich nicht gross genug.
Unser politisches System ist eines der besten auf der ganzen Welt, daran würde ich nichts ändern.»
Jakob Schwarz (EDU): «Offensichtlich hatte eine Mehrheit der Bevölkerung auf dem Land eine andere Haltung beim Thema Transitplatz als Stimmbürger in Städten und Agglomerationsgemeinden. Wenn die Landbevölkerung in einer einzelnen Abstimmung überstimmt wird, sehe ich dies nicht so dramatisch. Wenn dies aber die Regel wird, betrachte ich es tatsächlich als ein Problem. Doch in erster Linie müssen wir uns selber bei der Nase nehmen. Wenn wir uns beklagen, dass wir regelmässig überstimmt werden, dann dürfte es nicht sein, dass beispielsweise Kandergrund eine Stimmbeteiligung von 29 Prozent aufweist und die Stadt Bern eine von 49 Prozent.
Gegenüber einem völlig neuen System (wie ein Ständemehr für Verwaltungskreise) bin ich sehr skeptisch eingestellt, weil dies das Gewicht der kleinen Verwaltungskreise extrem erhöhen würde und die bevölkerungsreichen Verwaltungskreise stark benachteiligen könnte. Wenn die Haltung von Stadtund Landbevölkerung in wichtigen Fragen längerfristig extrem auseinanderklaffen, wäre für mich die Schaffung eines Halbkantons Bern Stadt und Bern Land (wie etwa Basel) eher eine prüfenswerte Option.»
Ernst Wandfluh (SVP): «Sicher war es im Fall Wileroltigen so, dass die Städte die ländlichen Regionen überstimmt haben. Das lag auch daran, dass es in den letzten Jahren eine Verschiebung der Wahlbeteiligung gegeben hat. Früher waren die Stimmbürger in ländlichen Gemeinden aktiver, heute gehen mehr Städter an die Urne. Deshalb muss die Frage lauten: Wie schaffen wir es, ‹unsere Leute› besser zu mobilisieren?
Eine Umstellung des Systems kann man sicher prüfen, halte ich aber für schwierig. In dieser Abstimmung hätte das sowieso nichts geändert, da bei fakultativen Referenden auch auf Bundesebene nur das Volksmehr zählt.
Übrigens gab es auch Abstimmungen, die im Sinne der ländlich geprägten Gemeinden ausgegangen sind. Um nur drei zu nennen: Die Wahl Werner Salzmanns in den Ständerrat, die Abstimmung zum Energiegesetz und der Volksvorschlag zur Senkung der Motorfahrzeugsteuer.