Wer kommt nach der Munitionsräumung in zwanzig Jahren zurück?
28.02.2020 Kandergrund, Blausee, Mitholz, PolitikDas VBS betont, dass es in Mitholz Ordnung schaffen will. Die alte Munition soll entsorgt werden. Das hat Konsequenzen, die in diesem Ausmass kaum vorhersehbar waren. Einige Anwohner sagen bereits, dass sie nach dem Wegzug nicht zurückkehren werden. Der Gemeindepräsident forderte ...
Das VBS betont, dass es in Mitholz Ordnung schaffen will. Die alte Munition soll entsorgt werden. Das hat Konsequenzen, die in diesem Ausmass kaum vorhersehbar waren. Einige Anwohner sagen bereits, dass sie nach dem Wegzug nicht zurückkehren werden. Der Gemeindepräsident forderte seinerseits eine «Lex Mitholz».
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Die Situation ist schwer verkraftbar, die Stimmung in Mitholz ist seit Dienstag noch gedrückter. Die Botschaft, dass das Dorf geräumt werden soll, beschäftigt die Betroffenen stark. Die Unsicherheit für die eigene Zukunft ist gross. Für einige ist bereits klar, dass sie nicht wieder nach Mitholz kommen werden.
Die Rückkehr ist unwahrscheinlich
Für Heidi Schmid und ihre Familie ist die Nachricht nicht völlig überraschend. Sie wirkt gefasst. Schon einige Zeit befassen sie sich mit dem Thema Wegzug, obwohl sie erst vor zehn Jahren in Mitholz ein Haus erbaut haben, «ganz nach unseren Vorstellungen und Wünschen». Dass sie in den nächsten Jahren wegziehen müssen und erst in zwanzig Jahren vielleicht wieder zurück in ihr Haus können, ist für die Familie keine realistische Option. «Wir werden dannzumal sicher unsere Existenz und Zukunft anderswo neu aufgebaut haben – und eine Rückkehr wird meines Erachtens nicht stattfinden.»
Zehn Jahre werden Schmids auch kaum warten mit dem Wegzug. Dass bereits während der Vorarbeiten mit viel Lärm und Staub von den Baustellen zu rechnen ist, wurde klar gesagt. Das will sich die Familie nicht antun, stattdessen sucht sie vorher eine passende Lösung. Klar ist, dass sie sich gegenüber dem Bund vehement für ihre Rechte einsetzen und entsprechend Entschädigungen verlangen wird. «Es geht nicht nur um ein Gebäude, um eine Liegenschaft. Es geht schlicht um die Existenz, die neu aufgebaut werden muss», sagt Heidi Schmid.
Gibt es Ersatz in Kandergrund?
Die Entschädigungen sollen individuell je nach Bedarf diskutiert und geregelt werden, versprach Bruno Locher, Chef Umwelt im VBS. Aktuell hat der Kanton die Liegenschaftssteuer um einen Viertel reduziert und der Bund zahlt den Liegenschaftsbesitzern rückwirkend auf Juni 2018 eine Entschädigung für den Minderwert. Dies so lange, bis die Evakuierung erfolgt. Das sei mit keinerlei Verpflichtungen verbunden und erfolge freiwillig, sagt der Gemeindepräsident Roman Lanz. Das heisst auch, dass der Bund die Höhe der Beträge bestimmt.
In der jetzt laufenden Mitwirkung sollen Bedürfnisse und Wünsche geäussert werden, ob man einen Verkauf der Liegenschaft an das VBS in Betracht zieht. Eine temporäre Abtretung sei eine weitere Variante. Es hängt natürlich massgeblich von der Höhe der Entschädigungen und dem Entscheid ab, ob eine Rückkehr in Betracht gezogen wird.
Und wenn jemand nicht wegziehen will? «Wir sind überzeugt, dass wir im Gespräch mit allen Lösungen finden werden», weicht Bruno Locher am Infoanlass in Kandersteg der direkten Antwort aus. Soweit sei man noch lange nicht. Auch Regierungsrat Philipp Müller als kantonaler Sicherheitsdirektor betonte, dass man Hand biete bei Raumplanungsfragen. Einzonungen für neue Wohnhäuser oder Gewerbe sollen so innerhalb der Gemeinde vereinfacht möglich werden. Das haben die lokalen Behörden mit Genugtuung gehört und sie werden sicher auf die Kantonsregierung zugehen.
Wer will ein Haus in Mitholz?
«Es war alles für die Zukunft geregelt. Wir haben zwei Kinder und zwei Häuser.» Martin Trachsel, in der IG Mitholz aktiv, muss mit seiner Familie wieder diskutieren. Beide Häuser liegen im roten Gefahrenperimeter des Munitionslagers. Ob in zwanzig Jahren der Nachwuchs aber noch ein Haus in Mitholz haben will?
Die locker formierte IG Mitholz wird sich nächstens zusammensetzen und eine festere Organisationsstruktur definieren. So könne man mit einer Stimme auftreten und sicher gewichtiger die eigenen Anliegen gegenüber dem Bund vertreten. Auch da stehen Fragen zu Entschädigung im Zentrum oder wie sieht es mit den Bankhypotheken aus? Als einziger Liegenschaftskäufer kommt derzeit wohl das VBS in Betracht …
Für Martin Trachsel ist allein schon der aufgezeigte Zeithorizont schwer zu verarbeiten. «Was für Projekte dauern heute so lange? Es ist kaum vorstellbar.» In zehn Jahren, wenn die Abklärungen und Vorbereitungsarbeiten beendet sind und es an den eigentlichen Räumungsprozess geht, wird der Kandergrunder Gemeindeschreiber in Pension gehen.
Die Lex Mitholz
Der Gemeindepräsident Roman Lanz machte deutlich: «Wir Bergler sind uns gewohnt, mit den Naturgefahren umzugehen und diese zu ertragen. Wir haben aber kein Verständnis, wenn durch Bürokratie die für uns so wichtigen Arbeiten verzögert werden sollten. Da sind wir dünnhäutig!» Er fordert eine Lex Mitholz, um möglichst schlank diese einmalige Situation bewältigen zu können – und die Einhaltung von Abmachungen langfristig sicherzustellen. Insbesondere in Richtung Bund ging seine Aufforderung, die Betroffenen fair und angemessen zu behandeln. Das zielte auf die Entschädigungen ab.
Man habe von Anfang an die komplette Räumung gefordert und war sich bewusst, dass dies Konsequenzen haben werde. «Mit diesem Ausmass hat jedoch niemand gerechnet. Bisher hoffte man sicher noch, dass es doch nicht so schlimm kommt wie gedacht. Und nun ist alles noch grösser.»
Was wird aus dem Steinbruch?
Privat ist er nicht betroffen, dafür beruflich: Bernhard Reichen ist Betriebsleiter der Steinbruch + Hartschotterwerk Blausee-Mitholz AG (SHB). Der Betrieb mit gut 20 Angestellten ist für die Gemeinde Kandergrund wichtig. Nach dem Infoanlass gehen ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf: «Man kann sich heute gar nicht vorstellen, was da auf uns zukommt.» Für die nächsten zehn Jahre werde vermutlich mit kleinen Einschränkungen Normalbetrieb herrschen. Doch danach? «Werden wir den Betrieb während der Räumungsphase überhaupt offenhalten können? Mit welchen Einschränkungen müssen wir rechnen? Wie sieht es mit der Sicherheit der Arbeiter aus?» Aktuell hat das Unternehmen noch Abbaumöglichkeiten für acht bis zehn Jahre. Eine Erweiterung ist geplant, diese wäre aber in der roten Gefahrenzone. «Wir werden uns dennoch um eine Bewilligung bemühen, um auch eine Zukunft zu haben», erklärt Reichen. Ob das Unternehmen zumindest von den grossen Felsmengen profitieren kann, die von der Fluh abgetragen werden sollen? «Qualitativ entspricht das Material weniger unseren Bedürfnissen», sagt Reichen skeptisch. Das müsse er aber genauer prüfen.
Für die SHB kommt hinzu, dass der Fensterstollen des Lötschberg-Basistunnels von ihrem Gelände in die Tiefe führt. Dieser Notzugang muss offenbleiben, damit die Neat-Züge fahren dürfen – zumindest so lange, bis allenfalls zwei durchgehende Röhren gebaut sind. Doch für diesen Ausbau plant die BLS den Installationsplatz in Mitholz. Am Mittwoch wurde aufgezeigt, dass allenfalls auch die Munitionsentsorgungsanlage auf SHB-Boden aufgestellt werden könnte. «Können wir so noch arbeiten?» Auch bei Bernhard Reichen hat sich eine ganze Liste mit ungeklärten Fragen angesammelt.
Es bleiben viele Fragen offen
Während des Anlasses ging öfters ein Murmeln durch die mit 350 Personen voll besetzte Turnhalle, auch mal ein ungläubiges Lachen. Fragen wurden wenige gestellt. Die Verarbeitung wird einige Zeit dauern. Zu viel ist noch unklar oder erfordert für jeden Einzelnen individuelle Lösungen: Wer organisiert eine neue Wohnung? Wer bewacht die Häuser, wenn wir ausgezogen sind? Wie kann das Kulturland bewirtschaftet werden, damit es nicht verödet? Wie soll die Zufahrt auf die Alp Giesenen in der Zeit der gefährlichen Räumung erfolgen? Müssen für die Schutzmassnahmen an Bahn und Strasse Wohnhäuser abgerissen werden? Und eine der wichtigsten Fragen: Wie gross ist der rote Bereich, aus dem die Anwohner für zehn Jahre wegziehen müssen – welche der gut 80 Haushalte betrifft es konkret?
Die beiden Informationsanlässe in Kandergrund und Kandersteg haben einerseits für Klarheit gesorgt, wie das VBS vorgehen will. Sie hinterlassen aber auch zahlreiche Fragen, die die persönliche Zukunft der rund 170 MitholzerInnen angeht. Da hilft die mehrfach gehörte Aussage wenig, man habe jetzt genug Zeit bis es ernst werde, um Antworten zu finden.
Was das VBS konkret vor hat, lesen Sie hier
KOMMENTAR
Die Zukunft angehen
Die Räumung der explosiven Altlasten in Mitholz ist eine Aufgabe, wie sie noch niemand in der Schweiz lösen musste. Zu beneiden sind die dafür Verantwortlichen im VBS nicht. Erfahrung mit einem solchen Projekt hat niemand. Dasselbe gilt aber auch für die MitholzerInnen. Keinem wurde vorher jemals gesagt, dass er in zehn Jahren für weitere zehn Jahre sein Haus verlassen müsse. Auch diese Herausforderung ist einmalig. Und wer nicht damit einverstanden ist – eine Alternative wird es kaum geben.
Was also jetzt? Das VBS muss vor allem so rasch als möglich Klarheit schaffen, wen der 170 Bewohner dieser Wegzug konkret betrifft. Nur so können die betroffenen ihre Zukunft planen, auch wenn die Zeitspanne von zehn Jahren bis zum Ernstfall lang erscheint. Mitholz wird sich nun laufend verändern, durch Wegzüge und durch erste Baustellen.
Und wer wird in zwanzig Jahren wieder zurückkommen? Wie werden dannzumal die Liegenschaften und Gebäude aussehen? Ist eine Rückkehr nach so langer Zeit überhaupt realistisch? Welche positiven Aspekte können der Situation abgewonnen werden? Auch diese Fragen erfordern aussergewöhnliche Denkansätze. Ein Beispiel: Wenn die Räumung erfolgreich ist, ist die Gefahr weg. Wird die Nationalstrasse zudem an die linke Talflanke verlegt, würde Mitholz quasi verkehrsberuhigt. So könnte das Dorf als Wohnort in Zukunft attraktiver werden.
Doch was wissen wir schon, was in zwanzig Jahren ist. Und dennoch werden die MitholzerInnen jetzt gezwungen, genau darüber nachzudenken. Je früher sie sich damit beschäftigen, desto besser.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
H.SCHNEIDER@FRUTIGLAENDER.CH