Das Ende des Flickenteppichs
17.03.2020 Region, GesundheitCORONA-KRISE Gestern Nachmittag hat der Bundesrat die landesweite Vereinheitlichung der Corona-Massnahmen verkündet. Bis 19. April gilt nun in der gesamten Schweiz die ausserordentliche Lage mit verschärften Regeln.
MARK POLLMEIER
Es war ein absehbarer Schritt. Am ...
CORONA-KRISE Gestern Nachmittag hat der Bundesrat die landesweite Vereinheitlichung der Corona-Massnahmen verkündet. Bis 19. April gilt nun in der gesamten Schweiz die ausserordentliche Lage mit verschärften Regeln.
MARK POLLMEIER
Es war ein absehbarer Schritt. Am Montagnachmittag verkündete die Landesregierung den erwarteten «Lockdown» ab Mitternacht, also die weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens im Land. Um die Regeln gesamtschweizerisch vereinheitlichen zu können, wurde die Lage von «besonders» auf «ausserordentlich» hochgestuft. Es gilt nun faktisch das Notrecht, was dem Bundesrat erweiterte Entscheidungskompetenzen gibt.
Leicht gemacht hat sich die Landesregierung die Entscheidung nicht. Die Krisensitzung dauerte deutlich länger als erwartet, mehrmals wurde die Medienkonferenz verschoben. Am Ende war es wohl der Druck von verschiedenen Seiten, der den Bundesrat zum Handeln zwang. Schon seit Sonntag hatten mehrere deutsch- und westschweizer Kantone die Corona-Vorsorge intensiviert. Zunächst rief Basel-Landschaft die Notlage aus, Veranstaltungen mit mehr als 50 Personen wurden im Baselbiet verboten, Sportanlässe generell untersagt. Alle Verkaufsstätten, die nicht versorgungsnotwendig sind, wurden geschlossen. Weitere Kantonsregierungen zogen nach, und jeder Kanton setzte dabei etwas andere Schwerpunkte, überall galten für Versammlungen andere Obergrenzen.
Parallel zu den Schweizer Kantonen wurden auch im benachbarten Ausland die Massnahmen immer weiter verschärft. Deutschland, Frankreich, Österreich – das ganze Wochenende über waren Meldungen eingetrudelt von Ladenschliessungen, einseitigen Grenzkontrollen, stillgelegten Flughäfen und Bahnverbindungen. Die EU-Kommission beriet gestern sogar über ein 30-tägiges Reiseverbot für die Mehrheit der EU-Bürger. (Das Ergebnis war zum Redaktionsschluss noch nicht bekannt.)
«Es muss ein Ruck durchs Land gehen»
Mit den Entscheiden des Bundesrates vom Montag wird also der Flickenteppich an Massnahmen abgeschafft, der sich zuvor im Land gebildet hatte. In eindringlichen Worten eröffnete Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Medienkonferenz: «Wir brauchen jetzt auch die Bevölkerung, die sich an diese Massnahmen hält – jeder und jede einzelne von uns!» Das betreffe auch die Jassrunde in der Beiz und die Wandergruppe. Es müsse nun ein Ruck durch das Land gehen, um Schlimmeres zu verhindern, so Sommaruga. Auch Bundesrat Alain Berset rief die Bevölkerung aller Altersgruppen und Landesteile auf, sich an die vom Bundesrat beschlossenen Regeln zu halten. Und diese lauten: Es wird nahezu alles geschlossen, was für die Versorgung der Bevölkerung nicht unbedingt nötig ist. Dabei betonte Berset, das Anlegen von Notvorräten sei nicht erforderlich. Betriebe, in denen das Abstand halten nicht eingehalten werden kann, müssen schliessen, etwa Coiffeursalons oder Kosmetikstudios. Apotheken, Tankstellen, Bahnhöfe, Banken, Poststellen, Hotels, Verwaltungen und soziale Einrichtungen bleiben geöffnet. Öffentliche und private Veranstaltungen sind ab sofort verboten.
Die Schengen-Grenzkontrollen, die bisher nur an der Südgrenze galten, wurden auf die übrigen Nachbarstaaten ausgedehnt. Schweizerbürger, Personen mit Aufenthaltsbewilligung und Berufspendler dürfen die Grenze passieren, Durchreisen durch die Schweiz sind weiterhin möglich, ebenso der Warenverkehr. Schweizerbürgern, die sich im Ausland aufhalten, wurde vorsorglich die Heimreise empfohlen.
Um den Hilfsgesuchen der Kantone zu entsprechen, erhöhte der Bundesrat die Obergrenze für den Assistenzdienst stark von 800 auf 8000 Armeeangehörige.
KOMMENTAR
Keine Ausreden mehr
«Sei schnell, bereue nichts. Du musst den ersten Zug machen. Wenn du dich immer erst absicherst, bevor du handelst, wirst du nie gewinnen». Diese Worte stammen von Dr. Michael Ryan, dem Geschäftsführer der WHO in Genf; geäus sert hat er sie am Sonntag. Ryan weiss, wovon er spricht. Seit über 20 Jahren bekämpft er weltweit schwere Seuchenausbrüche.
Dass sich die WHO am Wochenende zu Wort meldete, ist kein Zufall. Zwar haben viele Länder in den letzten Tagen weitreichende Massnahmen ergriffen, um die Corona-Ausbreitung einzudämmen. Trotzdem liess das Tempo zu wünschen übrig. Wie die übrigen Regierungen in Europa brauchte auch der Schweizer Bundesrat mehrere Anläufe, um jene Entscheide zu fällen, die nötig waren. Dabei lagen die Fakten zur Viruspandemie seit Wochen auf dem Tisch. Schon Ende Februar genügte ein Blick nach Norditalien, um die Lage realistisch einzuschätzen. Hätte man nicht schon viel früher hart durchgreifen müssen?
Wahrscheinlich schon. Doch es hätte vermutlich nichts gebracht – oder im schlechtesten Fall zu grösseren Panikreaktionen geführt. Alain Berset brachte es am vergangenen Samstag auf den Punkt: Es nütze ja nichts, wenn der Bundesrat in Bern alles Mögliche beschliesse. «Wenn die Leute nicht mitmachen, wird es nicht funktionieren.»
Die aktuelle Krise zeigt: Wenn es um rasche, einschneidende Massnahmen geht, haben liberale, demokratische Gesellschaften eine Achillesferse. Regierung und Behörden können hier nicht einfach etwas verfügen. Sie müssen behutsam vorgehen, Entscheide immer wieder erklären, den föderalen Dienstweg einhalten. Mit den Worten Dr. Ryans: Sie müssen sich absichern. Anders geht es nicht.
Insofern gab es zum Schweizer, zum europäischen Vorgehen vermutlich keine Alternative. Umso wichtiger ist es jetzt, das langsamere Entscheidungstempo durch Konsequenz wettzumachen. Es ist inzwischen klar, worum es geht, die Regeln sind definiert. Nun gibt es keine Ausreden mehr.
MARK POLLMEIER
M.POLLMEIER@FRUTIGLAENDER.CH