«Den Viechern ist das Virus egal»
26.05.2020 Coronavirus, Reichenbach, Kiental, WirtschaftWegen der Corona-Krise beklagen Gastgewerbe, Detailhandel, Coiffeurgeschäfte oder Campingplätze Verluste. Und welche Auswirkungen hatte der Lockdown auf die Landwirtschaft? Der «Frutigländer» besuchte einen Kandertaler Bauern.
PETER SCHIBLI
Wer von der Dorfstrasse ...
Wegen der Corona-Krise beklagen Gastgewerbe, Detailhandel, Coiffeurgeschäfte oder Campingplätze Verluste. Und welche Auswirkungen hatte der Lockdown auf die Landwirtschaft? Der «Frutigländer» besuchte einen Kandertaler Bauern.
PETER SCHIBLI
Wer von der Dorfstrasse her an den beiden Eseln und am Ententeich vorbei zum ehrwürdigen Bauernhaus aus dem Jahr 1751 spaziert, spürt nichts von Krise. Zwei Hühner rennen durch den Garten, unter einem Sonnenschirm steht ein gusseiserner alter Ofen, auf dem frische Waffeln zubereitet werden. Freudig begrüsst der Berner Sennenhund Timi die Besuchenden, während das Besitzerehepaar, Niklaus Hari und Erika Hänni, Tee, Kaffee und frischen Melissensirup in den Garten trägt.
Norweger besichtigen Biogas-Anlage
«Corona konnte uns nichts anhaben, den Viechern ist das Virus egal», meint Landwirt Hari lachend und zeigt auf die beiden Hühner. «Wir freuten uns darüber, dass sie während der Krise jeden Tag Eier legten.» Bereits im zweiten Satz bestätigt er allerdings, dass der Lockdown auch in seinem bäuerlichen Alltag zu einer Entschleunigung und zu Einbussen führte. «Viele Tätigkeiten mussten wir runterfahren.» So lief bei Beratungen und beim Verkauf von Biogas-Anlagen gar nichts mehr. Dafür hörte man wieder die Kander rauschen – denn auf der Durchgangsstrasse Spiez–Frutigen fuhren praktisch keine Autos.
Seit 2014 besitzt Hari eine Pilotanlage und berät Landwirte im In- und Ausland bei der Anschaffung und Installation von Biogas-Anlagen. Aus Hofdünger wird Methangas gewonnen, das in einem Kleinkraftwerk in Strom und Wärme umgewandelt wird. Anfang März – kurz vor der Grenzschliessung – war noch eine norwegische Delegation auf Haris Hof zu Besuch und besichtigte die Installation. Die Auslieferung einer bestellten Anlage nach Bayern musste wegen der Grenzschliessung warten und geht erst in diesen Tagen auf die Reise Richtung Süddeutschland.
Ein CO2-neutraler Betrieb
Hari hat sich der nachhaltigen Landwirtschaft verschrieben und ist stolz, dass sein Betrieb CO2-neutral ist. Die Exkremente seiner 20 Kühe und 13 Kälber verwandelt er täglich in Energie. Das Ehepaar fährt ein Elektroauto. Für die Arbeiten auf dem Hof benutzt er einen Elektrolader. Auch den dieselbetriebenen Traktor möchte er auf Biogas umstellen. «Dann sind wir komplett unabhängig von den Ölscheichs», meint der Landwirt mit einem Augenzwinkern. An der Biogas-Tankstelle in Frutigen ist Hari mit einem Drittel beteiligt. Fischabfälle und Schlamm aus dem Tropenhaus sowie Fäkalien aus der ARA Frutigen und Kandersteg bilden das Rohmaterial. Immer mehr private Eigenheimbesitzer setzen auf erneuerbare Energien. Das Dorf Frutigen hat nach seiner Einschätzung zusätzliches Potenzial für Biogas. «Wenn sich nun auch die Gemeinde Frutigen noch etwas stärker engagieren würde, dann wären wir im Tal Energiepioniere.»
Sein Haupteinkommen erzielt Hari im Fleischverkauf. Wegen dem gefallenen Milchpreis stellte er vor elf Jahren auf Mutterkuhhaltung um. Das ist rentabler als Milchwirtschaft. Die Rinder bringt er eigenhändig zum Dorfmetzger, der die Tiere nach der Schlachtung auch zerteilt. Zu Hause, auf seinem Hof, verpackt der Bauer das Fleisch portionenweise in Plastikbeutel, vakuumiert es und legt es in die Tiefkühltruhe. Sein Fleischvorrat zahlte sich diesmal aus. In der Corona-Krise vervierfachte sich Haris Absatz an Rindfleisch. Seine Kunden beliefern er und seine Mitarbeiter persönlich auf kürzeren und längeren Touren. Wegen des Virus werden sie derzeit aber nicht zu einem Kaffee reingebeten.
«Zivi» in Selbstquarantäne
Während ihm die Krise bezüglich Fleischabsatz Glück brachte, machte der Reichenbacher mit seinem Zivildienstleistenden eine eher negative Erfahrung. Nach einer Woche Lockdown rief ihn der junge Mann abends an und erklärte, er werde am nächsten Tag nicht zur Arbeit erscheinen. Die Freundin eines WG-Partners huste, weshalb er sich in die freiwillige Quarantäne begeben habe. Ein Kontrollanruf beim Bundesamt für Zivildienst brachte im ersten Moment keine Klärung. Der «Zivi» kehrte bis heute nicht an seinen Einsatzort in Reichenbach zurück.
Negative Auswirkungen hatte der Lockdown auch auf die Tätigkeiten von Ehefrau Erika Hänni. Ihr «Swiss Tavolata»-Angebot (Essen auf dem Bauernhof) musste sie vorübergehend sistieren, weil die bäuerliche Dienstleistung rechtlich gleich behandelt wird wie das Essen im Restaurant. Bewirten war während des Lockdowns verboten. Als Werklehrerin im Hasli angestellt, war die Bäuerin zum Fernunterricht verurteilt, was sich bei Stricken, Nähen und Werken nicht einfach so bewerkstelligen lässt. Umso glücklicher ist Erika Hänni, dass sie seit dem 11. Mai den Werkunterricht immerhin mit der halben Klasse wieder im Schulzimmer durchführen darf.
Abhängigkeiten reduzieren
Nun hofft Niklaus Hari, dass die Schweiz die Lehren aus der Corona-Krise gezogen hat. Nach seiner Ansicht haben Lockdown und Grenzschliessung gezeigt, wie abhängig wir von Importprodukten sind. Energie sollten wir vermehrt nachhaltig in der Schweiz herstellen, ebenso Grundnahrungsmittel, überlebensnotwendige Medikamente oder Hygienematerial, findet er. «Die nächste Welle oder das nächste Virus kommen bestimmt», meint Hari und rät, den Schweizer Eigenversorgungsgrad deutlich zu erhöhen. Zu den dringlichen Massnahmen gehöre auch die Aufwertung des Bauernberufs durch attraktivere Arbeitsbedingungen und eine bessere Ausbildung des Nachwuchses. Balsam in seinen Ohren war die Aussage von Bundesrat Parmelin, dass auch die Landwirtschaft für die Schweiz «systemrelevant» sei.
Mit den Worten «Es hätte für unseren Berufsstand schlimmer kommen können» verabschieden sich Niklaus Hari und Erika Hänni vom «Frutigländer». Mitte der 1960er-Jahre – der Reichenbacher war damals im Vorschulalter – litten viele Bauernbetriebe unter der Maul- und Klauenseuche. Das Elend war gross: Rund um die verseuchten Höfe wurde Kalk als Desinfektionsmittel gestreut, die Betriebe standen monatelang unter Quarantäne. Haris Vater führte die Herdenbuchstelle. «Als Kind hatte ich einen riesigen Respekt vor der Seuche», erinnert sich der Sohn und ergänzt: «Wir schätzen uns glücklich, dass unsere Tiere diesmal vom Virus verschont blieben.» Sprichts und verschwindet Richtung Stall.
Das Bäuerliche Sorgentelefon
Die MitarbeiterInnen des «Bäuerlichen Sorgentelefons» wurden in den vergangenen zehn Wochen nicht gerade überrannt mit Anrufen zur Corona-Krise. Wenn auf einem Betrieb bereits Probleme bestanden, dann spitzten sich diese in der Krise zu, heisst es auf Anfrage des «Frutigländers». Enges Zusammenleben ohne physische Kontakte zu Nachbarn, Freunden und Bekannten verstärkte vielerorts auch in der Landwirtschaft bestehende Spannungen. Hinzu kamen Absatzprobleme oder die Unmöglichkeit, schlachtreife Kälber oder Rinder abzuliefern.
Vereinzelt seien auch hypothetische Fragen gestellt worden, erzählt eine Mitarbeiterin. So wollte eine Bäuerin wissen, wo sie personelle Unterstützung beantragen könne, falls ihr Mann wegen eines positiven Testbefunds auf dem Betrieb ausfalle. Andere Anrufer beklagten sich, Homeschooling sei auf einem bäuerlichen Betrieb, wo die Eltern tagsüber eingespannt seien, nicht einfach zu handhaben. Für Verwirrung sorgte bei einigen Anrufern ein Passus in der eidgenössischen Covid-Richtlinie, welche den Landwirten empfahl, zu den Nutztieren auf Distanz zu gehen. «Wie soll ich meine Kuh auf Distanz melken?», meinte dazu ein Landwirt.
PS
Das «Bäuerliche Sorgentelefon» ist unter Tel. 041 820 02 15 erreichbar. Betreut wird es dreimal in der Woche: Montag (8.15 bis 12 Uhr), Dienstag (13 bis 17 Uhr) und Donnerstag (18 bis 22 Uhr).