Der parlamentarische Lockdown ist zu Ende
01.05.2020 Coronavirus, Analyse, PolitikAm nächsten Montag kommt das Parlament zu einer Sondersession zusammen. Fast 3,5 Millionen Franken kostet die Verlegung des Bundehauses aufs Berner Messegelände. Ist dieser Aufwand denn nötig? Unbedingt!
Am nächsten Montag kommt das Parlament zu einer Sondersession zusammen. Fast 3,5 Millionen Franken kostet die Verlegung des Bundehauses aufs Berner Messegelände. Ist dieser Aufwand denn nötig? Unbedingt! BILDGALERIE Die Corona-Krise als Krise der Demokratie – wer sich die Vorgänge in Ungarn anschaut, könnte auf solche Gedanken kommen. Dort hat Ministerpräsident Orban Ende März durchgesetzt, auf unbestimmte Zeit nach Notstandsrecht zu regieren. Die Gesetzgebung, das Festlegen von Wahlterminen, die Kontrolle der Medien: All das liegt nun in der alleinigen Kompetenz der Regierung bzw. des Regierungschefs. • Weil der Staatsapparat so gut funktionierte und die gesundheitlichen Folgen für das Land bisher überschaubar blieben, fragt sich offenbar mancher, wozu es das Parlament überhaupt braucht. Selbst unter den Mitgliedern des National- und Ständerats war durchaus umstritten, ob die nun bevorstehende Sondersession tatsächlich nötig ist. Manche argumentierten mit den hohen Kosten, andere führten die gesundheitlichen Risiken ins Feld – oder fanden, sie könnten zur Bewältigung der Krise ohnehin nichts beitragen. Tatsächlich ist die Legislative in einer zwiespältigen Situation. Formal hat das Parlament die Aufsicht über den Bundesrat und die Bundesverwaltung. Überdies hat es dieselben Notrechtskompetenzen wie der Bundesrat. In der ausserordentlichen Lage ist beides jedoch schwierig umzusetzen. Zwar können die Entscheide der Landesregierung vom Parlament überprüft und geändert werden – doch vieles lässt sich eben nicht mehr rückgängig machen. Ist etwa ein Abstimmungstermin vom Bundesrat verschoben worden, ist er eben verschoben. Und auch die bereits aufgegleisten Wirtschaftshilfen wird das Parlament im Nachhinein kaum mehr ändern können – zu gross wäre das Chaos, das dadurch entstünde. Und so war es denn auch der Bundesrat, der am 20. März eine Sondersession beantragte, um die im kleinen Kreis getroffenen Entscheide absegnen zu lassen. Erst einige Tage später fand dann auch eine Mehrheit des Ständerats, ein solches Treffen sei sinnvoll. In der Krise dürfe sich das Parlament nicht aus der Verantwortung stehlen, hiess es zur Begründung. • Nachdem die Sondersession beschlossene Sache war, erwachte auch die Politik allmählich wieder zum Leben. Den Startschuss gab vor zwei Wochen Albert Rösti in der SRF-Sendung «Arena». Anfangs hätten alle am gleichen Strick ziehen müssen, um die Corona-Herausforderungen zu bewältigen, sagte der Noch-SVP-Präsident. «Aber jetzt sind wir wieder Parteien. Es braucht den Wettbewerb.» • Hat die Corona-Pandemie zu einer Krise der Demokratie geführt? In der Schweiz ganz offensichtlich nicht. Die Institutionen sind handlungsfähig, das Parlament tagt, Volksabstimmungen werden nachgeholt. Weitere Bilder vom Parlament in den Berner Messehallen finden Sie als Fotoalbum auf www.frutiglaender.ch
Nun mag Ungarn, immerhin EU-Mitglied, ein extremes Beispiel sein. Aber auch in anderen Ländern sind die parlamentarischen Spielregeln weitgehend ausser Kraft gesetzt. In der Schweiz regiert seit Wochen der Bundesrat und erlässt quasi im Alleingang weitreichende Verfügungen, ohne dass das Volk noch etwas dazu sagen könnte. Er bewegt sich damit auf dem Boden des geltenden Rechts: Artikel 185 der Bundesverfassung ist für genau solche ausserordentlichen Umstände wie die Corona-Pandemie gedacht. Zur Wahrung der inneren und äusseren Sicherheit darf der Bundesrat die nötigen Massnahmen erlassen, auch wenn diesen zunächst die formale gesetzliche Grundlage fehlt. In den ersten Wochen dieses «Notrechts» gab es denn auch viel Lob für das beherzte Handeln der Landesregierung. Die Corona-Massnahmen wurden allgemein als richtig und sinnvoll akzeptiert, und abgesehen von Dauernörglern wie Roger Köppel kam von Bevölkerung und Parteien kaum Kritik. Mehr noch: Der Bundesrat, so wurde immer wieder betont, gebe eine gute Figur ab. Wann hatte man so etwas zum letzten Mal gehört?
Trotzdem: Ganz ohne Parlament geht es schon formal nicht. Die vom Bundesrat beschlossenen Notkredite müssen den eidgenössischen Räten zur nachträglichen Genehmigung vorgelegt werden – so verlangt es das Finanzhaushaltsgesetz.
Am Montag wird dieser Wettbewerb, so weit eben möglich, auf dem Berner Expo-Gelände starten – im Bundeshaus wären die immer noch geltenden Abstandsregeln nicht einzuhalten. Immerhin 3,4 Millionen Franken kostet die Verlegung des Plenarbetriebs in die Messehallen, wobei die Miete nur etwa einen Drittel ausmacht. Die übrigen Kosten entfallen auf die bereitgestellte Technik und das Personal. Ein wenig sparen wird man wohl bei der Verpflegung. Auf ein aufwendiges Catering wurde verzichtet, stattdessen soll es in der Pause Sandwichs geben.
Die Vorgänge der letzten Wochen zeigen aber, wie störanfällig der demokratische Betrieb ist. Das hat einerseits die genannten strukturellen Gründe – in Ausnahmesituationen schlägt die Stunde der Regierenden, während die Legislative in eine Zuschauerrolle gedrängt wird. Andererseits birgt die gegenwärtige Lage eine mentale Gefahr, nämlich die demokratische Kultur zu vernachlässigen und länger als nötig auf Sparflamme zu halten. Es ist bezeichnend, dass der Wunsch nach einer Sondersession nicht etwa aus den Reihen des Parlaments kam, sondern vom Bundesrat.
Insofern ist es gut, dass am Montag die Nationalund Ständeräte zusammenkommen. Die Sondersession zeigt, dass die Demokratie sich selbst ernst nimmt und nicht freiwillig auf Kontrollmechanismen verzichtet, nur weil es irgendwie auch so geht. Ohne hier einen Vergleich ziehen zu wollen: Am Beispiel Ungarn lässt sich beobachten, was passiert, wenn ein Parlament jegliche Selbstachtung verliert.