Eine virtuelle Reise wie vor 100 Jahren
05.06.2020 Aeschi, Aeschiried, Kandergrund, Blausee, Mitholz, Reichenbach, Kiental, TourismusDa zurzeit noch alle Grenzen geschlossen sind, reisen viele Schweizer Innen vermehrt im eigenen Land. Dazu hat heute jeder die Möglichkeit. Früher jedoch war Reisen nur den Wohlhabenden vorenthalten.
HANS HEIMANN
Noch im Mai empfahl der Bundesrat, nicht notwendige ...
Da zurzeit noch alle Grenzen geschlossen sind, reisen viele Schweizer Innen vermehrt im eigenen Land. Dazu hat heute jeder die Möglichkeit. Früher jedoch war Reisen nur den Wohlhabenden vorenthalten.
HANS HEIMANN
Noch im Mai empfahl der Bundesrat, nicht notwendige Reisen zu unterlassen. Auslandsreisen waren sowieso unmöglich, da alle unsere Nachbarländer ihre Grenzen geschlossen hatten. Grenzüberschreitungen waren nur mit einem triftigen Grund möglich.
Das erinnert ein wenig an das vorletzte Jahrhundert, als sich nur gut betuchte Leute Reisen leisten konnten. Die Allgemeinheit hatte weder Zeit noch Mittel dazu und war durch die Arbeit sowieso an ihr Zuhause gebunden. Unter den vermögenden Reisenden gab es solche, die ihre Erlebnisse in Reiseberichten niederschrieben, die für jedermann zu lesen waren.
Die Fotografie gab es damals noch nicht. Somit hatte der Leser sich auf sein eigenes Vorstellungsvermögen zu verlassen, um zu einem eigenen virtuellen Reiseerlebnis zu kommen. Der technische Fortschritt macht es heute möglich, vom Sofa aus die Welt zu erkunden. Man setzt sich eine sogenannte VR-Brille auf. VR steht für «Virtual Reality», virtuelle Realität. Das Gerät sieht einer überdimensionierten Skibrille ähnlich und verfügt über einen Bildschirm auf der Innenseite. Man setzte sich diese Brille auf, verbindet sie mit dem Internet, und dank der neuen Technologie ist man in Sekundenschnelle an einem Traumstrand, hört das Meeresrauschen aus den Lautsprechern an der Brille oder sieht in einem verschneiten Tal Schneehasen und Hirsche herumspringen. Alles ist möglich.
Wir beginnen in Aeschi …
Machen wir uns doch einmal auf so eine Zeitreise in unserer Region wie vor 100 Jahren. Wie damals, mit dem Pferd, in einer Kutsche oder auf Schusters Rappen. Wir starten in Aeschi mit seiner wunderbar erhöhten Lage über dem Thunersee und gegenüber dem Niesen. Es ist ein gut besuchter Ort, der mit seinen vielen Bänken an schönen Aussichtspunkten zum Verweilen einlädt. Die Dorfkirche, sie ist dem Apostel Petrus geweiht, kann man von Weitem sehen. Sie ist flankiert vom Wirtshaus Sternen und vom Hotel Blümlisalp. Nebst vielen Eschenbäumen, die dem Dorf den Namen gaben, sehen wir auch auffallend viele Kirschbäume. Aeschi ist bekannt für sein Kirschwasser.
Im Zentrum des täglichen Geschehens ist der Dorfbrunnen bei der Kreuzung der Fahrwege von Hondrich nach Aeschiried und von Krattigen ins Kandertal. Wir sehen die Frauen, die sich zum Waschen der Wäsche beim Dorfbrunnen treffen. Folgen wir dem Wegweiser ins Kandertal, so erspähen wir, noch bevor wir den Talboden erreichen, auf der anderen Kanderseite die Gebäude vom Bad Heustrich, dessen kalte Schwefelquelle als Heilmittel gegen Katarrh angepriesen wird. Ein eigener Kutschenbetrieb sorgt für den Transport der Kurgäste zwischen der Station Heustrich und der Kurheilstätte. Seit 1901 besteht die Eisenbahnlinie Spiez–Frutigen.
… wandern zum Blausee ...
Wir bleiben auf dem diesseitigen Kanderufer und laufen gegen Mülenen. Es ist bekannt für die längste Standseilbahn Europas, die Niesenbahn. Die Strasse, welche entlang dem Suldbach verläuft, ist auch gerade die Gemeindegrenze zum nächsten Dorf, Reichenbach. Dieses liegt abseits der Talstrasse, und sein markanter Kirchturm grüsst schon von Weitem. In der Dorfmitte dominiert das Gasthaus Bären, das schon seit dem 16. Jahrhundert Gäste beherbergt, und wo auch Gericht gehalten wurde. Gehen wir weiter und lassen Obstgärten, Matten und Häuser, die von der Zimmermannskunst des Tales zeugen, hinter uns. In Frutigen machen wir wieder Halt. Der Ort ist seit jeher bekannt für den Frutigmarkt, wo jeweils Vieheinkäufer aus dem Unterland und Wallis jährlich zugegen sind. Auf den Weiden sehen wir zahlreiche Schafe, welche die Wolle für das bekannte Frutigtuch liefern, das für Trachten sehr gefragt ist. Weiter geht unsere Reise auf der Kanderstegstrasse, wo es bald enger wird, die Landschaft steiniger und karger.
Ein Lichtblick ist ein kleines Kirchlein. Hier hält der Pfarrer von Frutigen alle zwei Wochen Predigt und teilt einmal im Jahr das Abendmahl aus. Wir gewinnen an Höhe und durchwandern ein Labyrinth von grossen Gesteinsblöcken. Da erleben wir das blaue Wunder – den Blausee. Sehen Sie das kristallklare und blaue Wasser? Wunderschön und einzigartig. Auf dem Grund entdecken wir von hellen Algen bewachsenes Geäst.
… und zum Ziel, dem Oeschinensee
Wir verlassen das Kleinod und ziehen über die Kehren des Bühlstutz hoch nach Kandersteg. Der Dorfname geht zurück auf einen alten Übergang über den Fluss, der zum Gemmi- und Lötschenpass führt. Das berühmteste Haus ist das reich verzierte Ruedihaus, einst erbaut für den Landsvenner Peter Germann. Majestätisch erscheinen vor uns die weissen Gipfel der Blüemlisalp, des Dolden- und Fründenhorns.
Am Fusse deren Steilwände liegt versteckt das Ziel unserer Reise. Wir schwenken links ein auf den Weg entlang dem Öschibach. Anfangs nur leicht ansteigend, bewältigen wir den stark ansteigenden Hang. Auf der darauffolgenden Ebene gelangen wir zum tiefblauen Oeschinensee, dem Ziel unserer virtuellen Reise. Und, wie hat sie Ihnen gefallen? Nun, Sie mögen festgestellt haben: Nur wer wirklich dort war, weiss, wie es dort ist. Oder wie hat Wilhelm Busch gesagt: «Drum o Mensch, sei weise, pack die Koffer und verreise.»