«Ich bin eine Grenzgängerin»
24.07.2020 Region, GesellschaftPORTRÄT Mehr als zwei Jahrzehnte lang war Magdalena Schatzmann an der Musikschule MUSIKA tätig, einen Teil davon als Co-Schulleiterin. Nachdem sie sich von dort zurückgezogen hat, erzählt die 62-Jährige aus ihrem Leben – das aus weit mehr als nur Musik ...
PORTRÄT Mehr als zwei Jahrzehnte lang war Magdalena Schatzmann an der Musikschule MUSIKA tätig, einen Teil davon als Co-Schulleiterin. Nachdem sie sich von dort zurückgezogen hat, erzählt die 62-Jährige aus ihrem Leben – das aus weit mehr als nur Musik besteht.
BARBARA STEINER-SUTER
Ruhig und idyllisch wirkt Schatzmanns Zuhause auf dem Bauernhof in Diemtigen. Das Heim und seine Bewohnerin strahlen Zufriedenheit und Ausgeglichenheit aus – ein Ort der Einheit und des Friedens mit der Natur. Dazu gehört auch Hofhündin Tosca, die am sonnigen Nachmittag meist im angenehmen Blätterschatten verweilt. Wie hat die 62-jährige Schatzmann ihre innere Ruhe gefunden? «Ich bin eine Grenzgängerin», reflektiert sie sich. Polarität zieht sie an und begleitet sie weit über ihr Schaffen als Musikerin hinaus. Ihr Leben ist eine immerwährende Reise, auf der sie Dagewesenes ergründet, Neues entdeckt, Gegensätze und Gemeinsamkeiten findet. Dank der Prozessarbeit «Deep Democracy» hat sie ihren Weg gefunden, alle Stimmen und Energien in sich und ihrem Umfeld zu akzeptieren und persönliche Grenzen zu verschieben. Als sie zu ihrem Partner, dem Bergbauern und Politiker Lorenz Kunz, ins Berner Oberland zog, übertrat sie eine Grenze – räumlich und mental: Die Städterin fand zur Urtümlichkeit im eigenen Ich.
Der Vielfalt der Musik sind kaum Grenzen gesetzt
In jungen Jahren wendete sich Schatzmann dem Instrument des Bildungsbürgertums, dem Klavier, zu. Ihr Studium führte auf intellektuellem Pfad in die Welt der Musik. Doch auch die Klangkunst und die Instrumente des Volkes, die oft in der spirituellen Welt wurzeln, faszinierten sie: Glocken, Tamtam, Klangschalen und Rasseln. Sie fand Melodien in der Natur und der Tierwelt. Sie suchte in der Musik nach Essenz und Energie, ergründete Zeitgebundenes und Überzeitliches und versuchte sich in längst verstorbene Komponisten einzufühlen. Durch ihre Studien fand sie Gemeinsamkeiten in den verschiedenen Musikwelten, kombinierte und kreierte neue musikalische Projekte. «Deep Democracy» zeigte ihr neue Ansätze, traditionelle und neue Musik zu vereinen. Auf der Alp entdeckte sie die Schönheit des Kuhglockengeläuts, verband die Glocken mit Klavier und Alphorn und fand zu einem einzigartigen neuen Musikstil. Das Echo war gross und die Konzerte sind gefragt.
Die leidenschaftliche Pädagogin gibt ihr Wissen gerne weiter
An der MUSIKA unterrichtete Schatzmann Kinder ab zirka fünf Jahren bis hin zum Maturanden im Klavierspiel. In den letzten fünf Jahren war sie zusätzlich als Co-Schulleiterin tätig, dabei lagen ihr besonders die Bereiche Öffentlichkeitsarbeit, Teambildung und Konfliktarbeit am Herzen. Ihre Offenheit, alle Aspekte in und um sich als wertvoll zu erachten, führte sie zu vielen neuen und innovativen Ideen, von denen mehrere umgesetzt wurden. «Die MUSIKA präsentiert sich heute als frische Institution mit einem guten Teamgeist», ist die Pädagogin überzeugt. Letzten Monat hat sie sich von beiden Aufgaben zurückgezogen.
Am Swiss Chamber Music Festival in Adelboden moderiert Schatzmann Auftritte junger Künstler: «Die Preisträger vergeben Kompositionsaufträge, die dann am Festival vorgestellt werden. Neue Musik ist aber schwieriger zu hören, vor allem für ein Publikum, das nicht aus Fachpersonen besteht. Ich analysiere die Werke vorab und versuche, das Publikum zu ermuntern, neu und anders Musik zu hören», erklärt die Musikerin. Sie wirkte zudem am neuen KlangHörweg des 2020-Festivals mit, indem sie unter anderem die Anweisungen für die verschiedenen Klangorte – die zum Lauschen, Experimentieren und Erkunden einladen – schrieb.
Schatzmann ist es zu verdanken, dass die MUSIKA heute ein fester Bestandteil des Swiss Chamber Music Festivals ist. Dabei profitieren beide Seiten: Das Festival wird durch die Mitwirkung einheimischer Kinder und Jugendlicher in der breiten Bevölkerung besser verankert und die Musikschule erhält durch den Anlass mehr Medienpräsenz. «Das Swiss Chamber wird jedes Jahr innovativer und erfolgreicher», freut sie sich.
Bergbäuerin mit Herz und Hang zur Politik
In Diemtigen führte Schatzmann mit ihrem Partner einen Bio-Bauernhof. Gute Nahrung, gute Tierhaltung und spannende Begegnungen mit Menschen: Diese drei Werte standen bei dem Bergbauernpaar immer im Vordergrund. Im Sommer zogen sie auf die Alp Ramsen-Toobefärrich. Über zwanzig Jahre produzierten sie Alpkäse, Raclettekäse, Mutschli und Formaggini, die sie ausnahmslos direkt vermarkteten. «Die Formaggini wurden zuerst belächelt, erreichten dann aber fast Kultstatus. Wir stellten unseren Käse auf offenem Feuer her, dadurch wurde er unvergleichlich würzig mit feinem Rauchgeschmack», schwärmt Schatzmann. Trotz strenger Arbeit genossen sie den Reiz des einfachen Lebens abseits der Zivilisation in Harmonie mit den Tieren und der Natur. «Ich war immer gerne dort, es war eine ganz spezielle Alp», erinnert sie sich ans Leben als Sennerin.
Aus dem Spannungsfeld ihrer Verschiedenheit – sie Musikerin und Pädagogin, er Bergbauer und Politiker – sprossen neue Ideen, wuchsen und entwickelten sich innovative Projekte. So waren sie Pioniere der Erlebnisalp: Besucher wurden ins Alpleben einbezogen: Schatzmann stellte mit ihnen Käse her, Kunz liess sie beim Pflegen der Laibe mithelfen und lehrte sie den achtsamen Umgang mit Tieren. Heute sind Erlebnisalpen / offene Alpen Standard im Naturpark Diemtigtal.
«Lorenz war ein feinsinniger Tierflüsterer, er hat sein Leben lang für das Wohl von Tieren und Natur gekämpft. Als Politiker hat er sich immer für die kleinen Landwirtschaftsbetriebe und für artgerechte Tierhaltung eingesetzt», erzählt Schatzmann. Seit dem Tod ihres Partners hat sich ihr Leben verändert. Noch immer lebt und arbeitet sie auf dem Hof, doch die Grenzen ihres Ichs haben sich erneut verschoben. Sie arbeitet mit ihrem Pächter zusammen und betreut ehemalige Kunden. Weiterhin setzt sie sich für den sorgsamen Umgang mit der Natur und den Tieren ein. Mit einer Agronomin aus Deutschland arbeitet sie an Themen zur nachhaltigen Landwirtschaftspolitik. «Ich habe viel von Lorenz gelernt, vor allem stand fest und unbestechlich zu werden», sinniert sie.
Deep Democracy, in Freundschaft mit allem Leben verbunden
Seit 2017 ist Schatzmann vermehrt als «Deep Democracy»-Coach und Facilitator tätig.«Deep Democracy kann man auch sagen, wenn man Diversität, Vielfalt meint. In der Natur generiert Biodiversität Leben, Monokultur ist immer tödlich. Deep Democracy heisst, allen meinen inneren Stimmen Gehör zu verschaffen, alle ernst zu nehmen. Es ist ein multidimensionaler Ansatz, die Welt zu begreifen», erklärt Schatzmann die Prozessarbeit, die sie seit dreissig Jahren auf ihrem Lebensweg begleitet. «Deep Democracy setzt die verschiedenen Rollen einer Person oder einer Gruppe miteinander in Beziehung, sprich: deine Welt ist meine Welt.» Dabei wird in tieferen Ebenen der Existenz – des Ichs oder des Wirs – Kraft geholt, um bei Alltagsproblemen Grenzen zu überschreiten, zu verschieben, um die eigene Identität zu vergrössern. Was abstrakt klingt, kann konkret angewandt werden. Schatzmann nennt ein Beispiel: «Ich stehe auf der Bühne und ein Teil in mir möchte lieber gemütlich zu Hause sitzen. Wenn ich diese Stimme in mir verdränge, kann sie mich während des Konzerts hindern, indem sie meine Konzentration stört. Ich wäre nicht vollständig. Wenn der gemütliche Teil in mir bewusst mitspielen darf, wirkt er vielleicht einer Steifheit entgegen, die klassische Konzerte oft begleiten.»
Schatzmann bietet Coachings und Facilitation an. Dabei arbeitet sie mit ihren KlientInnen gerne in der Natur, wo sich die teils abstrakten Gedankengänge einfacher in reale Beispiele umwandeln lassen um «the Tao, that can’t be spoken» (das Tao, das nicht in Worte gefasst werden kann) zu begreifen.
Tätigkeiten im Tal
Schatzmann arbeitete als Klavierlehrerin / Dozentin an der Kantonsschule Frauenfeld und am Konservatorium in Bern. Von 1996 bis 2020 unterrichtete sie Klavier an der Musikschule unteres Simmental Kandertal (MUSIKA). Von 2015 bis 2020 war sie Co-Schulleiterin. Seit 2013 gibt sie regelmässig Workshops am Exploratorium in Berlin und an der Volkshochschule Spiez-Niedersimmental. Seit 2010 wirkt sie am Swiss Chamber Music Festival in Adelboden mit, seit 2017 ist sie Vorstandsmitglied.
Breite Ausbildung
Magdalena Schatzmann wuchs in Schöftland (AG) auf. Nach Abschluss der Matura studierte sie Musik am Konservatorium Winterthur, ihr Hauptfach war Klavier. 1985 schloss sie das Studium mit dem Lehr- und dem Konzertdiplom ab. Danach folgten weiterführende Studien und Kurse zu Klavier, Liedbegleitung, Neue Musik, Improvisation und Klangarbeit. 1999 bis 2003 studierte sie Unintentional Music bei Lane Arye und Ruby Brooks, seither bietet sie Facilitation und Coachings dazu an. 2012 begann sie ein Studium am Deep Democracy Institute bei Max und Ellen Schupbach. 2019 absolvierte sie ihren Diplomabschluss als Facilitator und Coach.
Bäuerin und Pädagogin
1993 bis 2017 arbeitete Schatzmann als Bergbäuerin in Diemtigen und war Mitinitiantin von «Kulturland», einem Begegnungsprojekt für ganzheitliches kulturelles Verständnis. In Bern führte sie von 1993 bis 1999 Prozessgruppen für Pädagogik, von 1996 bis 2010 Klavierklassen für Profis und Amateure durch. Zurzeit obliegt ihr die musikalische Leitung der Amateur-Kabarettgruppe «Linggi Schnure». Sie gibt Konzerte (Solo, Liederabende, Kammermusik, Grenzgänge, Neue und Experimentelle Musik). Im Kulturland-Atelier auf ihrem Bauernhof leitet sie Workshops für Musik, Prozessarbeit Deep Democracy u. a.
BSS