KOLUMNE – NACHHALTIG
04.08.2020 Coronavirus, Politik, KolumneKantönligeist im Zeichen des Virus
Zum ersten Mal richtig kritisch hinterfragte ich unsere föderalistischen Strukturen im ersten Jahr meines Agronomiestudiums in Zürich. Diese Ausbildung wird für die ganze Schweiz nur an der ETH Zürich angeboten; und so kam es, dass ...
Kantönligeist im Zeichen des Virus
Zum ersten Mal richtig kritisch hinterfragte ich unsere föderalistischen Strukturen im ersten Jahr meines Agronomiestudiums in Zürich. Diese Ausbildung wird für die ganze Schweiz nur an der ETH Zürich angeboten; und so kam es, dass Berner mit Zürcherinnen, Tessiner mit Baslerinnen und Thurgauerinnen mit Jurassiern die gleiche Schulbank drückten. Das erste Jahr sei, so unsere Mathematik- und Chemieprofessoren, nur da, um die unterschiedlichen Maturastandards der Kantone anzugleichen. Und tatsächlich konnten wir unter uns erhebliche Unterschiede im schulischen Rucksack aus den jeweiligen Kantonen feststellen – einheitlich hielten wir Studierenden damals fest, dass dies unsinnig sei, würden doch alle kantonalen Maturaabschlüsse Zutritt zu allen Studienrichtungen und -orten in der Schweiz erlauben. Vom zeitlichen und finanziellen Aufwand der ETH, die M atura-Unterschiede auszugleichen, sprachen wir damals noch nicht.
Und nun mache ich den Sprung in die Tagesaktualität der Corona-Epoche und hinterfrage erneut, wie es denn sein kann, dass eine Pandemie – eine weltweit grassierende Krankheit – nach einem kurzen politischen Intermezzo auf Bundesebene von den einzelnen Kantonen in Schach gehalten werden soll. Die Kantone konnten ab Juni über die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr entscheiden – niemand trug Masken. Der Bund sprach nach zwei Wochen ein Machtwort, und siehe da: Alle trugen Masken in Zug und Bus. Und ich könnte noch Dutzende Episoden der letzten Wochen und Monate aufzählen, wo die Kantone überfordert waren – nein, eigentlich wir alle. Wann, wo, wie soll denn nun eine Maske getragen werden? Und als ob diese Vielfalt an Geboten, Empfehlungen und Bussen innerhalb der Schweiz nicht schon genug Verwirrung stiften würde, lese ich nun, dass sogar Belgien einen Unterschied zwischen dem Wallis und Bern macht und eine Reisewarnung für bestimmte Westschweizer Kantone ausgegeben hat! Liebe Virusträger und Nichtvirusträger, wo kommen wir da noch hin ...
Um dem immer wieder ins Feld geführten Argument, die Kantone wüssten am besten, ob bei ihnen im Volg-Lädeli ein Infektionsrisiko oder eben keines bestünde, gleich in aller Deutlichkeit zu entgegnen, gebe ich gerne die «Basler Fasnacht»-Story zum Besten. Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK) ist sozusagen die Grals hüterin des föderalistischen Gesundheitswesens. Auch wenn sie keine Weisungsbefugnis hat, lebt sie von den 26 Direktoren, die sich dank der Kommission auch national wahrgenommen fühlen (für Politiker eine wesentliche Bestätigung ihres Selbstwertgefühls). Allen voran der neue Präsident der GDK: der Gesundheitsdirektor des Kantons Basel-Stadt, Lukas Engelberger. Natürlich geht es mir hier nicht um seine Person, sondern darum, aufzuzeigen, wie kantonale Politiker in ihrer Lokalität gefangen sind. Das Fest aller Feste in Basel ist die Fasnacht, der Morgestraich fiel dieses Jahr auf den 2. März. Undenkbar für die Basler, dass ein Virus die Fasnacht gefährden könnte! Der Basler Gesundheitsdirektor bekräftigte am 25. Februar die Durchführung des Anlasses. Bis am 28. Februar. An diesem Freitag verbot der Bundesrat Veranstaltungen mit über 1000 Personen und damit die Basler Fasnacht. Zum Glück für Engelberger! Als lokaler Politiker hätte er sich mit einer selber getroffenen Absage der heiligen Fasnacht womöglich die Wiederwahl als Regierungsrat an den Hut stecken können. Und natürlich zum Glück unzähliger Basler, die gesund blieben.
Wenn auf der anderen Seite der Kanton Tessin aufgrund des Coronaausbruchs in der Lombardei rascher die Grenzen schliessen wollte als der Bundesrat, dann könnte das wiederum als Argument zugunsten des föderalistischen Ansatzes angeführt werden. Nur hat sich später herausgestellt, dass das Virus zur gleichen Zeit aus ganz unterschiedlichen Richtungen in die Schweiz einwanderte. Das Tessin war einfach mehr auf Draht. Und der Bundesrat, respektive seine Taskforce, noch nicht ganz parat. Die GDK macht sich mit der Aufgabe der Koordination übrigens alle Ehre. Wie dürfen, Stand 31. Juli, Clubs betrieben werden? 9 Kantone folgen den Bundesvorgaben, 15 verlangen zusätzlich eine ID-Kontrolle, 9 eine Handynummer-Kontrolle und 3 eine Maskenpflicht, einer verbietet allen Clubs, zu öffnen. Ein Kommentar erübrigt sich.
Diese Kolumne hat sich der Nachhaltigkeit verschrieben. Der angeprangerte Kantönligeist hat neben den oben geschilderten Schwierigkeiten, auf die gleiche Herausforderung einheitlich zu reagieren, noch einen weiteren Klumpfuss, nämlich jenen der wirtschaftlichen Nachhaltigkeit. Dem Bund stehen gegen Covid-19 folgende Strukturen zur Verfügung: der Krisenstab des Bundesrates zur Bewältigung der Corona-Krise (KSBC), diverse Mitarbeiter des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) und des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) und zusätzlich eine wissenschaftliche «Science Task Force» mit externen Experten aus der ganzen Schweiz. Nach zwei Monaten der Führerschaft im Kampf gegen das Virus übergab der Bundesrat die Verantwortung den Kantonen. Fünfundzwanzig Gesundheitsdirektionen sollten ab April in vergleichbarer Kompetenz wie der nationale Apparat Massnahmen für ihre Kantone beschliessen. Wohlgemerkt: Fünf Kantone haben nicht mehr Einwohner als die Gemeinde Thun. Alle versuchen nun im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Entscheidungsstrukturen zu schaffen. Um beschliessen zu können, ob die Schulen nun halb, ganz oder gar nicht aufgehen, oder ob im Schulbus nun Maskenpflicht oder nicht herrschen soll. Wieviel Zeit und Geld das wohl kostet?! Ich kann hierzu keine Zahlen präsentieren, die GDK wahrscheinlich auch nicht. Sicher bin ich mir aber, dass alle Massnahmen das gleiche Ziel haben: die Verbreitung eines weltweit ziemlich einheitlichen Virus in der Bevölkerung zu bremsen. Und sicher bin ich mir auch, dass die nationalen Stellen genau gleich weiter funktionieren. Sie sollen jetzt nur vorbildlich föderalistisch «den Mund halten». Sonst jaulen einzelne Kantone gleich auf, wie kürzlich, als der Bund angesichts steigender Zahlen eine allgemeine Maskenpflicht in Läden empfohlen hat. Ich will übrigens die Kantone nicht von ihrer Verantwortung befreien. Die Umsetzung und Kontrolle von Massnahmen, die Organisation der Spitäler, die Bewilligung von individuellen Anlässen – all das und vieles mehr kann besser innerhalb kleinerer und bestehender Strukturen erledigt werden.
Also hapert es folglich an einer klaren Rollenteilung zwischen Bund und Kantonen, und aus der Sicht der öffentlichen Finanzen auch an einer Optimierung der Aufgabenverteilung und eines nachhaltigen Ressourceneinsatzes. Eine (inter-) nationale Bedrohung verlangt innerhalb der Schweiz nach einer nationalen Antwort durch den Bund, verstärkt mit ausgewiesenen Experten. Die Kantone unterstützen den Bund im Rahmen ihrer eingespielten Kompetenzen und Möglichkeiten. Alles andere weckt Erinnerungen an festgefahrene Strukturen in der Schweiz – wie die der kantonalen Maturitätsverordnungen.
SAMUEL B. MOSER
NACHHALTIG@BLUEWIN.CH