Ein Vierteljahrhundert im Dienst von Verstorbenen
15.01.2021 Porträt, Reichenbach, Kiental, WirtschaftNach 25 Jahren übergaben Vreni und Fritz Sieber aufs Neujahr ihren Bestattungsdienst in jüngere Hände. In all der Zeit haben sie viel erlebt und Änderungen mitgemacht. Nun freuen sie sich auf den Ruhestand.
KATHARINA WITTWER
Eigentlich seien sie auf ...
Nach 25 Jahren übergaben Vreni und Fritz Sieber aufs Neujahr ihren Bestattungsdienst in jüngere Hände. In all der Zeit haben sie viel erlebt und Änderungen mitgemacht. Nun freuen sie sich auf den Ruhestand.
KATHARINA WITTWER
Eigentlich seien sie auf unterschiedliche Art und Weise Bestatter geworden, erzählen Vreni und Fritz Sieber am grossen Stubentisch in ihrem Zuhause in Scharnachtal. Fritz trat 1966 im Betrieb seines Onkels in Reudlen die Schreinerlehre an. Sein Lehrmeister führte dazu auch einen Bestattungsdienst. Als einer der Angestellten seinem Vorgesetzten wegen Abwesenheit einmal nicht zur Hand gehen konnte, nahm dieser den Lernenden Fritz Sieber mit. Von jenem Tag an passierte dies immer häufiger. «Die Särge schreinerten wir damals noch selbst. Ein Teil der Angestellten war jeweils einige Tage damit beschäftigt, einen Vorrat anzulegen. Alle Särge waren gleich lang, aber unterschiedlich breit. Kindersärglein wurden nur bei Bedarf hergestellt», erinnert sich Sieber. Nach getaner Arbeit kam ein Maler vorbei, lackierte sie dunkelbraun und verpasste ihnen noch eine helle Maserung. Später bezog man die Särge von einer Schreinerei im Kanton Zürich. «Da der Lieferant selbst Wald besitzt, nutzte er vornehmlich einheimisches Holz oder solches aus Österreich und Deutschland.»
«Das wirsch du wool o chönne!»
Als Fritz Sieber 1995 das auf einen Zweimannbetrieb geschrumpfte Geschäft übernahm, wurde er zum selbstständigen Bestatter von Reichenbach. Die Familie zügelte von Scharnachtal nach Reudlen ins Haus, in dem die Schreinerei untergebracht war. «Ich dachte, ich würde nebst den Haushalt- und Gartenauch die Büroarbeiten erledigen, ansonsten jedoch wenig mit dem Geschäft zu tun haben», erzählt Vreni Sieber. Unterstützung bei Todesfällen bekam ihr Mann von einem Teilzeitangestellten. Weil dieser einmal wegen der Arbeit auf seinem Bauernhof unabkömmlich war, bat Fritz seine Frau um Hilfe mit den Worten: «Das wirsch du wool o chönne!» Gesagt, getan. «So bin ich reingerutscht», blickt Vreni zurück.
Mode ändert sich – auch nach dem Tod
Schon als «Gehilfe» hatte Fritz Sieber das Gefühl, man könne bestimmt das eine oder andere «schöner» gestalten. Kaum selbstständig, setzte er seine Vorstellungen schrittweise um. Ehefrau Vreni besuchte deswegen bald einen mehrtägigen Kurs, angeboten vom Verband der Bestattungsdienste. «Die Teilnehmenden waren wohl sehr nett, trotzdem fühlte ich mich ein bisschen deplatziert. Als jemand von 300 Bestattungen pro Jahr erzählte, wurde mir so richtig bewusst, in was für einem kleinen, aber sehr persönlichen Rahmen wir unsere Arbeiten ausführen.»
Bis gegen Ende des letzten Jahrhunderts wurden Verstorbene fast ausschliesslich in einem weissen Totenhemd in ihren Sarg gebettet. Ab und zu wurde ein Bauer in seinem Sonntagsgewand – dem «Halbleinen» – beerdigt. In den Sarg wurden Nelken und Asparagus gelegt. Mittlerweile treten die meisten Verstorbenen ihre letzte Reise in Alltagskleidern an. Auch der Blumenschmuck hat sich der Zeit angepasst.
Zu Beginn von Siebers Geschäftstätigkeit waren Erdbestattungen gang und gäbe. Auf 20 Beerdigungen pro Jahr kamen vielleicht zwei oder drei Urnenbeisetzungen. Heute ist es genau umgekehrt. Warum in den letzten Monaten sieben Erdbestattungen in Folge gewünscht wurden, obwohl die Asche der Verstorbenen entweder im Urnen-, Gemeinschaftsoder neu auch im Wiesengrab beigesetzt werden kann, wissen Siebers nicht.
Die Bilder bleiben
Dass der Tod nicht immer friedlich daherkommt, haben die pensionierten Bestattungsunternehmer in den 25 Jahren ihrer Tätigkeit mehrmals erlebt. Bis zu Fritz Siebers 65. Altersjahr waren sie bei der Polizei als Bestatter gemeldet und wurden von dieser Seite ab und zu auf eine Unfallstelle oder zu einem Suizid gerufen. «In den meisten Fällen wird man am Telefon nicht über die Todesursache informiert. Bis man vor Ort ist und funktioniert, fragt man sich ununterbrochen, was man wohl antrifft. Die Bilder und Umstände vergisst man nicht», erzählt Vreni. Wichtig sei, das Erlebte hinterher gemeinsam zu besprechen, um es so gut wie möglich zu verarbeiten.
«Das Trauergespräch mit den Familienmitgliedern hat meistens meine Frau geführt. Im Laufe der Jahre hat sie ein sehr gutes ‹Gspüri› entwickelt», so Fritz. Es gehe dabei nicht bloss ums Abarbeiten der Checkliste. Ab und hätten sie, gestaunt, was die Hinterbliebenen offenbarten. Bestatter unterstehen der Schweigepflicht.
Er behält sein «Budeli»
Fritz Sieber feierte letztes Jahr seinen 70. Geburtstag, Vreni ist zwei Jahre jünger. Mehr als einige Tage Ferien irgendwo in der Schweiz machten sie nie – auch nicht, als ihre Söhne noch klein waren. «Seit es Handys gibt, ist man stets erreichbar, was nicht nur Vorteile hat», wissen sie aus Erfahrung. Sie sind nämlich auch schon vorzeitig aus den Ferien zurückgekehrt, weil eine Familie niemand anderen als Siebers wünschte für eine Bestattung. Kürzlich erst planten sie einen Ausflug ins Nachbartal. Der Rucksack war fertig gepackt, als das Telefon klingelte. Daraufhin haben sie kurzfristig ihr Programm geändert.
Seit Anfang des Jahres geniessen sie die Zeit, ohne ständig an einen möglichen Telefonanruf zu denken. Daran müssen sie sich allerdings noch etwas gewöhnen. Fritz Sieber wird in seinem «Budeli» weiterhin kleine Schreineraufträge erledigen. Er und seine Frau hoffen, dass die Corona-Krise bald zu Ende ist und sie sich endlich wieder mit Freude ihren fünf Enkelkindern widmen können.