Der alte Zopf wird nicht abgeschnitten
23.02.2021 Krattigen, Gesellschaft, PolitikBurgergemeinden sind historisch gewachsen und älter als die politischen Gemeinden. In Krattigen sind rund 15 Prozent der EinwohnerInnen zugleich im Besitz des Burgerrechtes. Ein Blick in die Geschichte fördert Interessantes zutage.
KATHARINA WITTWER
Krattigen wurde ...
Burgergemeinden sind historisch gewachsen und älter als die politischen Gemeinden. In Krattigen sind rund 15 Prozent der EinwohnerInnen zugleich im Besitz des Burgerrechtes. Ein Blick in die Geschichte fördert Interessantes zutage.
KATHARINA WITTWER
Krattigen wurde erstmals 1297 als Eigentum der Edlen von Eschenbach urkundlich erwähnt, befand sich jedoch unter der Herrschaft Österreichs. Im Freiheitsbrief von 1476 wurde dem Gericht Krattigen ein Landrecht verliehen. Dieses hielt sich bis zur französischen Revolution und wurde formell erst durch den Grossratsbeschluss vom 2. Dezember 1840 als erloschen erklärt.
Nach dem Franzoseneinfall Ende des 18. Jahrhunderts und den anschliessenden politischen Umstrukturierungen wurde am 31. Juli 1846 dem Berner Volk die vom Grossen Rat angenommene neue Verfassung vorgelegt. Teil dieser Verfassung war die Neuorganisation der Gemeinden. Die Bewohner (das Frauenstimmrecht war damals noch in weiter Ferne) von Krattigen schlossen sich zur Burgergemeinde zusammen. Parallel dazu wurde die Einwohnergemeinde rechtskräftig.
In einem Artikel im «Bund» vom 2. Dezember 2009 ist zu lesen, dass Burgergemeinden auf dem Land ursprünglich Marktgenossenschaften waren, welche vom gemeinsamen Nutzungsgut (vor allem Wald und Weideland) profitierten. Im 17. Jahrhundert wurden die gemeindeähnlichen Organisationen verpflichtet, ihre Armen zu unterstützen. Damit man wusste, wer «die eigenen Armen» waren, wurden geschlossene Körperschaften gebildet und Buch geführt.
Burgergemeinden unterstehen dem kantonalen Recht
1947 wurde der Verband bernischer Burgergemeinden und burgerlicher Korporationen (VBBG) gegründet. Im Kanton Bern existieren heute nahezu 200 Burgergemeinden und ungefähr 70 burgerliche Korporationen (u. a. Bäuerten). Sie sind gemäss Kantonsverfassung öffentlich-rechtliche Körperschaften, unterstehen dem Gemeindegesetz und bezahlen Mehrwertsteuer und andere Steuern. Hauptaufgabe der Burgergemeinden ist das Verwalten des Burgerguts (Wohnhäuser, Land, Alpen, Wald / Forst) durch Selbstbewirtschaftung, Verpachtung oder Vermietung. Sämtliche Amtshandlungen einer Burgergemeinde – von der Rechnungsführung, den Ausschreibungen für die zweimal jährlich stattfindenden Versammlungen bis hin zur Verpachtung von Schrebergärten – unterliegen kantonalem Gesetz. Wie bei politischen Gemeinden werden die Bücher regelmässig vom Regierungsstatthalteramt überprüft.
Nachkommen oder Ehepartner
Die ansässigen Familien erhielten bei der «Gründung» der politischen Gemeinde gleichzeitig das Burgerrecht und den Heimatort Krattigen. Im Gegensatz zum Heimatort, den man normalerweise behält, verliert man das Burgerrecht beim Wegzug. Wer zurückkehrt, erhält es wieder.
Von den aktuell 1125 Einwohner-Innen Krattigens sind rund 160 Burger, das heisst, es sind Nachkommen oder Ehepartnerinnen der «alten Geschlechter». Aktuell sind dies: Graf, Heim, Kummer, Lauener, Luginbühl, Schick, Steudler und Wittwer. Würden Nachfahren der einstigen Burger (Aegler, Gonseth, Grünig, Meyer, Moritz, Ramser, Schwenkfelder und Leuenberger) in Krattigen Wohnsitz nehmen, könnten sie mit einem Nachweis, dass ihre Vorfahren von dort stammten, ein Gesuch zur Aufnahme stellen. Änderungen im Familien- und Eherecht haben auch Auswirkungen aufs Burgerrecht.
Schrebergärten, Wald und zwei Alpen
Die Gesamtfläche der politischen Gemeinde Krattigen beträgt 600 Hektaren, wovon rund 220 Hektaren der Burgergemeinde gehören. Burgereigenes Landwirtschaftsland und Schrebergärten sind verpachtet, wofür Burger einen Vorzugszins bezahlen. «Der Unterhalt unserer zwei Alpen und das In-Schuss-Halten der langen Zufahrtsstrassen kostet Geld. Werden die Reserven knapp, verkaufen wir unter Umständen Bauland oder treten selber als Bauherrin auf», weiss Burgerpräsident Konrad Steudler. So zum Beispiel am Quellenweg, wo vor zehn Jahren zwei Mehrfamilienhäuser entstanden. Die Hälfte dieser Wohnungen wurde im Stockwerkeigentum verkauft, die restlichen sind vermietet.
Die Alp Hellboden ist mit einer Strasse erschlossen und verfügt über eine moderne Käserei. Bis vor wenigen Jahren wurde sie von der Burgergemeinde selbst bewirtschaftet. So musste regelmässig neues Alppersonal rekrutiert werden. Weil nur noch fünf Landwirte Burger sind, ist die Nachfrage nach Sömmerungsplätzen für Rindvieh rückläufig. Seit 2018 ist der Hellboden nun an eine Bauernfamilie aus einer Nachbargemeinde verpachtet.
Ums Jahr 1870 herum wurde die Alp Bällen an die Burgergemeinde Saxeten verkauft. Mit dem Erlös aus diesem Verkauf ist im Gegenzug die Alp Leissigbärgli von einer gewissen Familie Grossen aus Aeschi erworben worden. Dieses rund 60 Hektar grosse, mehrstafelige Senntum erstreckt sich von 980 bis 1670 m ü. M. und liegt in den Gemeinden Leissigen und Därligen. Es ist langjährig verpachtet. Die Bewirtschaftung des gesamten Waldes in der Grösse von rund 110 Hektaren wurde vollumfänglich dem Forstbetrieb Thunersee-Suldtal übergeben.
Eine lange Versammlung
Der Burgerrat (Exekutive) besteht aus fünf Mitgliedern und dem/der Burgerschreiber/-in. Für die Exekutive gilt eine Amtszeitbeschränkung von zwölf Jahren. Konrad Steudler ist seit 2016 Präsident, nachdem er vorher fünf Jahre das Amt des Vizepräsidenten innehatte. Zusätzlich ist er für die Alp Leissigbärgli zuständig. Seit zehn Jahren amtet Silvia Luginbühl als Burgerschreiberin. Weitere Ressorts sind Finanzen, Wald / Forst, Alp Hellboden, Schrebergärten und die Mehrfamilienhäuser am Quellenweg.
«Im letzten Jahr haben wir das Nutzungsreglement überarbeitet. Das älteste Reglement im Archiv wurde 1853 verfasst und im darauffolgenden Jahr vom Regierungsstatthalteramt «sanctioniert» (also genehmigt).
Stöbert man in alten Protokollen, muss angenommen werden, dass an Burgerversammlungen nicht immer nur Traktanden beredet wurden. Diejenige vom 28. Oktober 1947 im «Kreuz» dauerte von 20 Uhr bis sage und schreibe 1 Uhr.
Vom einfachen Kassabuch bis zur Rechnung nach HRM2
Die Rechnungsführung nach HRM2 wurde an die Gemeindeverwaltung übergeben. Buchungen wie sie noch im Kassabuch von 1911 zu finden sind, werden kaum mehr getätigt. Für ein Käsejärb wurden 3.50 Franken ausgegeben, eine neue Nidlekelle für den Hellboden kostete 4.95 Franken und ein Notizbüchlein wurde für 35 Rappen angeschafft. Welch grossen Auftrag durfte wohl Wagner Alfred Zwahlen ausführen? In ebendiesem Jahr stellte er eine Rechnung in der Höhe von 16 Franken aus.
Heute steht die Burgergemeinde finanziell auf gesunden Beinen. Burgergemeinden mögen ein alter Zopf sein, doch in Krattigen denkt momentan niemand daran, diesen abzuschneiden.
Weitere Infos über die Alp Leissigbärgli finden Sie unter www.frutiglaender.ch/web-links.html