Die Verhüllung sprengt das Links-Rechts-Schema
12.02.2021 Landwirtschaft, AnalyseABSTIMMUNG Auf den ersten Blick sind die Fronten klar: Bürgerliche wollen ein Burkaverbot, Linke und Liberale sind dagegen. Weil es im Kern jedoch um die Rechte der Frau geht, bekommt die SVP-nahe Initiative auch Zuspruch von der anderen Seite. Zudem berührt das Thema das ...
ABSTIMMUNG Auf den ersten Blick sind die Fronten klar: Bürgerliche wollen ein Burkaverbot, Linke und Liberale sind dagegen. Weil es im Kern jedoch um die Rechte der Frau geht, bekommt die SVP-nahe Initiative auch Zuspruch von der anderen Seite. Zudem berührt das Thema das Selbstverständnis der Schweiz – und den Tourismus.
BIANCA HÜSING «Muss man da als Liberaler jetzt dagegen oder dafür sein ..?» Diese schlichte Frage eines Facebook-Nutzers trifft den Nagel auf den Kopf. Sich beim Thema Verhüllungsverbot zu positionieren, ist ausserordentlich schwierig – besonders für SchweizerInnen, die sich als liberal begreifen. Ist es liberal, die symbolische Unterdrückung der Frau zu dulden? Ist es umgekehrt liberaler, Frauen bestimmte Kleidungsstücke zu verbieten und dies auch noch in der Bundesverfassung zu verankern?
Entlang dieser Fragen verschwimmen Fronten und bröckeln Bündnisse. FeministInnen sind sich uneins, FDP und glp haben ihre eigene Basis nicht im Griff, und auch unter MuslimInnen gehen die Meinungen auseinander. In den jüngsten Umfragen sieht es sogar so aus, als würden die Frauen eine seltene Allianz mit der SVP eingehen: Während die Partei zuletzt immer am wachsenden weiblichen Stimmenanteil zu knabbern hatte, könnten die Frauen diesmal einer SVP-nahen Vorlage zum Erfolg verhelfen. Laut Tamedia liegt die Zustimmung aktuell bei 65 Prozent.
Die falschen Urheber eines richtigen Anliegens?
Die Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot» stammt vom Egerkinger Komitee, das 2009 bereits ein Minarettverbot erwirkt hat und in dessen Vorstand unter anderem der kantonale JSVP-Präsident Nils Fiechter aus Frutigen sitzt. Während sich der Initativtext ganz allgemein gegen Gesichtsverhüllungen richtet, offenbart die Kampagne, worum es dem Komitee eigentlich geht: Um die extremste Form muslimischer Verschleierung, den Niqab und die Burka (Niqabs lassen einen Schlitz für die Augen frei, bei Burkas sind die Augen hinter einem Netz verborgen). Aus Sicht der Initianten handelt es sich dabei um «Stoffgefängnisse», die keinem anderen Zweck dienen als der Unterdrückung der Frau – und die daher aus der Öffentlichkeit verbannt werden müssen. Konkret sei jede Form der Gesichtsverhüllung zu verbieten, die nicht aus Sicherheits- und gesundheitlichen Gründen nötig ist und die nicht zum einheimischen Brauchtum gehört. Corona-Masken und «Pelzmartiga»-Kostüme wären demnach kein Problem. Auch das weitaus gängigere Kopftuch ist mit der Initiative nicht gemeint, weil es das Gesicht freilässt.
Dass nun gerade die SVP sich als Verteidigerin der Frauenrechte geriert, sorgt für Spott von Links. Vielmehr unterstellt man den Initianten islamfeindliche Motive – wozu die Abstimmungsplakate durchaus Anhaltspunkte liefern. Abgebildet ist ein bedrohlich dreinblickendes Augenpaar hinter einem Niqab, rechts daneben die Aufschrift: «Extremismus stoppen!» Manchmal taucht die Muslima im Doppelpack mit einem Krawallmacher auf, der sich hinter einem nasenhohen Schal verbirgt und Molotowcocktails wirft.
Obwohl ihnen sowohl diese Bildsprache als auch die Urheber der Initiative zuwider sind, werben vereinzelt sogar Linke, Freisinnige und FeministInnen für ein Ja. Diese Spannung im Rechts-Links-Schema kommt nicht von ungefähr. Denn egal, aus welchem Blickwinkel man die Vorlage betrachtet: Sie führt unweigerlich zum Dilemma.
Die Frauenfrage: Bevormundung in beide Richtungen
Im Zentrum der Debatte steht die Frau. In einem liberalen Staat wie der Schweiz, die sich die Gleichstellung der Geschlechter auf die Fahne schreibt, haben Burkas eigentlich nichts zu suchen. Sie verbergen Frauen, entmenschlichen sie und schliessen sie von echter gesellschaftlicher Teilhabe aus. Jede/-r, der sich auch nur ansatzweise als FrauchenrechtlerIn begreift, müsste am 7. März eigentlich ein Ja in die Urne legen. Ganz so einfach ist es aber nicht. Denn was passiert, wenn unterdrückte Frauen ihren Schleier in der Öffentlichkeit ablegen müssen? Sie dürfen vielleicht gar nicht mehr in die Öffentlichkeit. Mit diesem Schreckensszenario argumentieren GegnerInnen der Initiative – und das wohl nicht zu Unrecht. Wer Frauen zur Vollverschleierung zwingt, wird seine Einstellung nicht wegen eines Verfassungsartikels ändern. Ein Burkaverbot könnte betroffenen Musliminnen also schlimmstenfalls den letzten Zugang zum öffentlichen Leben nehmen und damit auch die Möglichkeit, sich an Beratungsstellen zu wenden. Auch würde man zu ähnlich totalitären Methoden greifen wie die Unterdrückenden, wenn man Frauen statt eines Kleiderzwangs eben ein Kleiderverbot auferlegt. Schliesslich soll es auch viele geben, die aus freien Stücken und religiöser Überzeugung einen Niqab tragen. Ob man nun also für oder gegen die Initiative stimmt: Eine gewisse Bevormundung schwingt immer mit.
Ein Glaubensbekenntnis – oder eben nicht?
Zum Selbstverständnis liberaler Staaten gehören auch die Religionsfreiheit und die Toleranz gegenüber anderen Kulturen. Beides hat jedoch Grenzen, wie die Bundesverfassung deutlich macht: «Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen.» Ein Burkazwang ist demnach heute schon Tabu. Wie aber geht man mit Frauen um, die sich freiwillig verhüllen? Laut dem Religionsforscher Andreas Tunger-Zanetti gibt es in der Schweiz 20 bis 30 Vollverschleierte. Sie trügen ihren Niqab aus voller Überzeugung und teils sogar gegen den Willen ihrer Familie. «Frauen in Westeuropa verhüllen sich nicht, weil sie von einem Mann dazu gezwungen werden», glaubt Tunger-Zanetti.
Anders sieht das der deutsche Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi. Er hält die Freiwilligkeit des Burkatragens für eine Selbsttäuschung. Gerade Konvertitinnen würden mit dieser besonders extremen Anpassung versuchen, innerhalb ihrer neuen Glaubensgemeinschaft ernst genommen zu werden. Auch habe die Verschleierung nichts mit Religion zu tun, sondern allein mit der Festigung männlicher Macht.
Dass die Unterdrückung der Frau eher ein gesellschaftliches Problem ist als ein religiöses, zeigt ein Blick auf verschiedene muslimisch geprägte Staaten. In Saudi-Arabien dürfen Frauen erst seit 2019 Auto fahren, während es in der Türkei bis vor Kurzem verboten war, an Schulen oder Unis ein Kopftuch zu tragen. In Ägypten wurden die Muslimbrüder in den 1950er-Jahren noch dafür ausgelacht, dass sie eine Kopftuchpflicht forderten. Heute ist die Verhüllung dort wieder gang und gäbe, weil die Muslimbruderschaft an Macht gewonnen hat.
Es steht also keineswegs im Widerspruch zu Religionsfreiheit und Toleranz, wenn eine Gesellschaft ihre eigenen Grenzen definiert und gewisse weltliche Werte höher gewichtet als vermeintlich religiöse. Die Frage ist nur, auf welche Weise man diese Werte durchsetzen möchte.
Tourismus fürchtet Einbussen – bisher unbegründet
Der Umgang mit den eigenen BürgerInnen ist das Eine. Wie aber verfährt man mit Gästen, die nur für ein paar Tage bleiben – und die viel Geld mitbringen? Arabische Touristen gelten als besonders kaufkräftig und werden für die Branche immer wichtiger. Aus Interlaken sind sie nicht mehr wegzudenken, auch im Frutigland gewinnt dieses Gästesegment an Bedeutung. Kein Wunder also, dass der Schweizer Tourismus-Verband sich gegen ein Burkaverbot zur Wehr setzt. Zusammen mit HotellerieSuisse und Seilbahnen Schweiz bildet er sogar ein eigenes Nein-Komitee. Die Branche fürchtet einen massiven Imageschaden für die liberale Schweiz. Auch moderate MuslimInnen könnten das Verbot als Akt der Intoleranz auslegen und dem Land künftig fernbleiben.
Möglicherweise wären die Auswirkungen aber auch weit weniger dramatisch, als die Branche es darstellt. In Österreich, wo Komplettverschleierung schon seit 2017 verboten ist, scheint das Gesetz den Tourismus bisher nicht zu tangieren. Die AraberInnen kommen weiterhin (wenn nicht gerade Pandemie ist), und wer auf das Burkaverbot hingewiesen wird, nimmt den Schleier in der Regel ohne Protest ab. Manche setzen ihn an der nächsten Strassenecke wieder auf, andere umgehen das Problem mit Schutzmasken – und das nicht erst seit Corona. In Frankreich legte ein algerisch-französischer Millionär einen Fonds an, um Musliminnen beim Zahlen ihrer Busse zu unterstützen. Ansonsten hat das seit 2011 geltende Burkaverbot augenscheinlich auch dort nicht viel verändert. Im Tessin (Verhüllungsverbot seit 2016) scheint der Tourismus ebenfalls nicht zu leiden. Stattdessen ärgert sich der Polizeipräsident Michele Bertini gegenüber der «Zeit»: «Es wurde ein beträchtlicher Aufwand geleistet, um ein Problem zu lösen, das es faktisch nicht gibt.»
Symbolpolitik gegen ein Symbol
Zusammengefasst lässt sich also sagen: Ein Verhüllungsverbot führt keine grossen Veränderungen herbei – weder zum Guten noch zum Schlechten. Tatsächlich unterdrückte Frauen werden dadurch nicht automatisch befreit, und freiwillige Burkaträgerinnen finden Wege, das Verbot zu umgehen. Man kann die Abstimmung am 7. März also getrost als Symbolpolitik abtun. Doch auch das ist nicht per se schlecht. Die Schweiz kann ein Zeichen setzen und klarstellen: Hier steht die Gleichheit der Frau über religiöser oder kultureller Tradition. Ob es dazu eines eigenen Verfassungsartikels bedarf, kann jede/-r liberale BürgerIn für sich selbst entscheiden.
Die Hauptargumente in Kürze
Pro:
• Burkas und Niqabs sind ein Symbol der Frauenunterdrückung;
• Ein Verhüllungsverbot sorgt für mehr Sicherheit vor terroristischen Anschlägen und politischen Gewalttaten;
• In einer offenen Gesellschaft zeigt man sein Gesicht.
Contra:
• Ein Verbot beschneidet die Selbstbestimmung der Frau;
• Der geforderte Verfassungsartikel ist eine übertriebene Massnahme gegen ein Randphänomen, zumal Burkazwang und Vermummung auf Demonstrationen bereits heute vielerorts verboten sind;
• Ein Verhüllungsverbot ist nicht mit der Religionsfreiheit vereinbar.
HÜS
Indirekter Gegenvorschlag
Das Parlament lehnt ein Verhüllungsverbot auf Bundesebene ab und hat stattdessen einen indirekten Gegenvorschlag ausgearbeitet. Dieser sieht vor, dass Vollverschleierte ihr Gesicht dann freizulegen haben, wenn sie in Kontakt mit Behörden treten oder sich identifizieren müssen. Ausserdem beinhaltet der Gegenvorschlag Förderprogramme für die Rechte der Frau.
Sollte die Initiative am 7. März abgelehnt werden, tritt der indirekte Gegenvorschlag in Kraft.
HÜS