Ein agrarpolitischer Scheinsieg
19.03.2021 Landwirtschaft, AnalyseNach dem Ständerat hat nun auch der Nationalrat die Landwirtschaftspolitik des Bundes gestoppt. Für den Bundesrat ist das ein Desaster, denn betroffen sind nicht nur seine Agrarreformen, sondern auch die Klimaziele der Schweiz. Die Bauernlobby dagegen darf sich als Gewinnerin fühlen ...
Nach dem Ständerat hat nun auch der Nationalrat die Landwirtschaftspolitik des Bundes gestoppt. Für den Bundesrat ist das ein Desaster, denn betroffen sind nicht nur seine Agrarreformen, sondern auch die Klimaziele der Schweiz. Die Bauernlobby dagegen darf sich als Gewinnerin fühlen – vorerst.
MARK POLLMEIER Die Schweiz hat ein Problem. Eine Mehrheit in Politik und Gesellschaft anerkennt, dass der Klimawandel eine Bedrohung darstellt. In der Abstimmung 2017 befürworteten fast 60 Prozent die Energiestrategie des Bundes – inklusive Atomausstieg. Sobald es dann aber konkret wird, beginnen die Abwehrgefechte. Das revidierte Energiegesetz des Kantons Bern: 2019 vom Volk abgelehnt. Die Verabschiedung des nationalen CO2-Gesetzes: Ein ewiges Hickhack, im Juni steht das Referendum an.
Landwirtschaft und Flugverkehr
Jüngstes Beispiel für einen klimapolitischen Rückschlag ist die Sistierung der Agrarpolitik AP22+. Der Zusammenhang mag zunächst überraschen – was hat die Landwirtschaft mit dem Klima zu tun? Eine ganze Menge. Doch der Reihe nach.
Seit Langem ist der Bundesrat dabei, die Agrarpolitik ökologischer auszurichten. Auch die Planungsperiode ab dem Jahr 2022 (22+) sollte der Umwelt- und Klimadebatte Rechnung tragen.
Dass es hier Spielräume gibt, ist unbestritten. Die Schweizer Landwirtschaft stösst ebenso viel Treibhausgase aus wie der internationale Flugverkehr, durch die Corona-Pandemie dürfte der Agrarsektor inzwischen sogar vorn liegen. Die meisten Emissionen entstehen durch die Viehwirtschaft und den Einsatz von Düngemitteln. Ein Überschuss an Dünger kann in intensiv genutzten Böden zur Bildung von schädlichem Lachgas, einem Stickstoffoxid, führen.
Agrarpolitik ist also auch Klimapolitik, und so legte der Bundesrat fest, dass die Treibhausgas-Emissionen der Landwirtschaft bis zum Jahr 2030 um 20 bis 30 Prozent gesenkt werden sollen. Die Agrarpolitik AP22+ sollte die Massnahmen festlegen, die zum Erreichen dieses Ziels nötig sind.
«Das ist nicht seriös»
Doch daraus wird vorerst nichts werden. Mitte Dezember hatte sich zunächst der Ständerat für eine Sistierung der AP22+ ausgesprochen. Landwirtschaftsminister Guy Parmelin zeigte sich damals empört. Seit Jahren würden diese Leitlinien erarbeitet, nach der Konsultation habe man Kompromisse gesucht und Anpassungen vorgenommen, «und jetzt plötzlich finden Sie, man müsse wieder bei null beginnen. Das ist nicht seriös.»
Schon mit dem Entscheid des Ständerates war das Projekt praktisch erledigt. Am vergangenen Dienstag versetzte ihm der Nationalrat dann den Todesstoss. Die grosse Kammer folgte dem Ständerat und beschloss mit 100 zu 95 Stimmen, die Agrarpolitik 22+ zu sistieren. Zur Begründung hiess es, das Werk sei insgesamt unausgegoren. Doch es geht auch um handfeste Zahlen. So würde der Selbstversorgungsgrad der Schweiz als Folge der AP22+ von heute 56 auf 52 Prozent sinken. Auch bei den Einkommen der Landwirte befürchteten die Kritiker Einbussen – wohl nicht ohne Grund. Mit der AP22+ wollte der Bund die Pauschalbeiträge an die Bauern (vor allem Grossbauern) zurückfahren, stattdessen sollten besondere ökologische Leistungen honoriert werden. Das hätte beispielsweise bedeutet, dass Landwirte weniger Tiere pro Fläche halten dürfen und mehr Land für die Biodiversität reservieren müssten.
Nun liegt all das auf Eis, der Bundesrat und das Bundesamt für Landwirtschaft stehen vor einem agrarpolitischen Scherbenhaufen. Bevor sich das Parlament erneut mit der Thematik beschäftigen will, soll die Landesregierung erst eine Auslegeordnung dazu vorlegen. Gefordert werden Auskünfte, die man durchaus klimapolitisch einordnen kann, etwa zur Selbstversorgung der Schweiz oder zur nachhaltigen Lebensmittelproduktion. Erläuterungen werden aber auch gefordert zur administrativen Entlastung von Landwirtschaftsbetrieben und deren unternehmerischer Auslastung. Einerseits mehr Ökologie und Nachhaltigkeit, andererseits mehr Wettbewerb und Effizienz – es ist ein Merkmal der seit Jahren andauernden Agrardebatte, dass sie mit sich widersprechenden Forderungen überfrachtet wird. Auch deswegen ist fraglich, was bei der angemahnten «Auslegeordnung» Neues herauskommen soll. Sicher ist dagegen, dass der jüngste Entscheid die Landwirtschaftspolitik der Schweiz um Jahre zurückwerfen wird – und damit auch die Klimaziele des Landes.
Als grosser Gewinner in diesem Dauerstreit gilt nun der Schweizer Bauernverband SBV. Dessen umtriebiger Präsident Markus Ritter hat im Parlament ganze Arbeit geleistet: Die Agrarreform ist erst einmal gestoppt, bis mindestens 2025 bleibt alles beim Alten. Die Frage ist, wie dauerhaft dieser Erfolg sein wird – zur Agrarpolitik hat bekanntlich auch die Bevölkerung eine Meinung, und die kann sie das nächste Mal schon im Juni äussern. Dann wird über gleich zwei agrarpolitische Initiativen abgestimmt, es geht ums Trinkwasser und den Einsatz von Pestiziden (siehe auch Artikel unten). Der SBV und einige Mitstreiter bekämpfen beide Vorlagen, sie seien viel zu «extrem». Aber werden sie die Stimmbürger überzeugen können?
Stimmungstest am 13. Juni
Die Agrarpolitik ist ein komplexes Feld. Breite Bevölkerungsschichten zeigen für Details und Zusammenhänge wenig Interesse; was zählt, ist das grosse Bild. Der SBV und andere Agrarlobbyisten müssen aufpassen, in diesem Bild nicht als Verhinderer und Blockierer dazustehen, die zwar gern die Hand aufhalten, sich selbst aber nicht bewegen wollen. Ein aktuelles Beispiel, worum es geht, liefert Jacques Bourgeois, FDP-Nationalrat und bis 2020 Direktor des Schweizer Bauernverbandes. In einer Motion fordert Bourgeois, der Bund solle die Ernteversicherung in der Landwirtschaft ohne weitere Verzögerung umsetzen. Denn: «Klimaereignisse verursachen bei der Ernte zunehmend Schwankungen, die oft zu erheblichen Ertragsverlusten führen.»
Tatsächlich hatte der Bundesrat vor, eine solche Ernteversicherung als Teil der AP22+ einzuführen und die Kosten teilweise zu übernehmen. Nun wird die Agrarpolitik nicht umgesetzt – die Versicherung gegen die Klimaschäden will Bourgeois aber trotzdem sofort.
Ein solches Verhalten fördert nicht unbedingt die Glaubwürdigkeit der Branchenvertreter. Ähnlich ist es mit dem umstrittenen Selbstversorgungsgrad des Landes. Der SBV spricht von Ernährungssicherheit, versteht darunter aber vor allem eine Ausweitung der Produktion mit konventionellen Mitteln. So könnte ein fataler Eindruck entstehen: Die Bauernlobby verhindert den Wandel, will aber Rosinen picken.
Sollte sich dieses Image in der Öffentlichkeit festsetzen, hätten Markus Ritter und seine Mitstreiter der Branche mehr geschadet als genützt. Die erste Quittung könnte schon am 13. Juni anstehen. Gut möglich, dass sich das Volk dann wieder einmal klima- und umweltbewusst gibt – und die beiden Agrarinitiativen annimmt.