«Am ersten Tag suchte ich einen PC»

  07.12.2021 Region, Gesundheit

Vom Spitalverwalter zum CEO der fmi AG: 28 Jahre lang hat der Aeschiner Urs Gehrig das Oberländer Spitalwesen stark geprägt. Ein Gespräch kurz vor seiner Pensionierung über damals und heute.

HANS RUDOLF SCHNEIDER
1632 Löhne wurden Ende November ausbezahlt. Damit gehört die Spitäler fmi AG im Oberland zu den grössten Arbeitgebern überhaupt. Urs Gehrig hat massgeblich zum Wachstum des Unternehmens beigetragen, während 28 Jahren blieb er dem Gesundheitswesen treu. Ende Jahr geht er in den Ruhestand. Einige Mandate wird er allerdings noch weiterführen – mit viel Engagement, so wie man ihn kennt. Im Gespräch über seine Karriere sprudelt es nur so von Anekdoten. Allein über seinen ersten Arbeitstag in Frutigen gibt es einiges zu erzählen. «Als ich am 1. November 1993 als Verwalter anfing, blieb mein Vorgänger noch zwei Wochen. Dann meinte er: ‹Du kannst das›, und weg war er.»

Von einem Spitalbetrieb hatte der neue Chef jedoch absolut keine Ahnung. Er machte seine Ausbildung ursprünglich in der Baubranche (Tiefbau / Eisenbeton), verpackte Werbematerial, war als Bauführer beim Kinderspital Bern involviert und bildete sich kaufmännisch weiter. Dann folgte ein Studium zum Betriebsökonomen, parallel dazu eine Ausbildung in Personalführung. In Frutigen sprang er nicht das erste Mal ins kalte Wasser: Als er beim Pumpenbauer Bieri mit seinen 300 Angestellten in der Personalabteilung anfing, war deren Chef gerade gegangen. Gehrig übernahm. Es folgte der Wechsel als Personalchef zum Handelskonzern Valora mit letztlich 12 000 Angestellten. Gehrig suchte immer die Herausforderungen – vor dem Spitaljob führte er eine der schweizweit grössten Kaffeeröstereien aus den roten in die schwarzen Zahlen. Ein Auslandsangebot lehnte er jedoch ab, da er nicht dauernd unterwegs sein, sondern auch bei der Kinderbetreuung helfen wollte. Dann sah er das Inserat für das Spital Frutigen …

Ohne Team gehts nicht
Sein erster Arbeitstag ist ihm noch immer gut in Erinnerung: «Es gab einen einzigen PC im ganzen Betrieb, und den hatte der Anästhesist. Der Verwalter hatte seine Sekretärin im privaten Rahmen engagiert, die fehlte mir natürlich auch. Also musste ich die Verwaltungsorganisation rasch ändern – und plötzlich waren wir sogar in den Schweizer Medien, als der ganze Betrieb mit Glasfaser vernetzt wurde», schaut Gehrig zurück. Einige Jahre lang waren sogar alle Oberländer Spitäler und Heime miteinander vernetzt. Neuerungen einzuführen, blieb bis zuletzt ein wichtiger Teil seiner Arbeit. Der Betriebswirtschaftler spürte schnell, wie stark die Abteilungen getrennt waren. Es gab die Pflege, die Ärzte und den Verwalter respektive Direktor. «Heute wird eng zusammengearbeitet, das Team ist enorm wichtig. Aber diese Entwicklung brauchte ihre Zeit, es fand ein Kulturwandel statt. Doch als Nichtmediziner in diesem Spezialistenbetrieb musste ich viel lernen.»

Urs Gehrig zieht den Ausbau der psychiatrischen Dienste von zehn auf über 100 Stellen, die enge Zusammenarbeit mit der Spitex, den Hausärzten und der Rettungsflugwacht als Beispiele für die Entwicklung heran – und den fmi-eigenen Rettungsdienst. Wenn ein Patient abgeholt werden musste, sprangen damals ein Anästhesiepfleger und ein Fahrer in die Ambulanz. «Es konnte durchaus sein, dass der Küchenchef oder der technische Leiter des Spitals als Fahrer des Rettungsfahrzeugs plötzlich mit einem schweren Unfall konfrontiert wurde. Versorgt wurden die Patienten erst im Spital. Heute hingegen haben wir fahrende Notfalleinrichtungen, die Patienten werden vor Ort erstbetreut, und im Winter betreiben wir bis zu sechs Stützpunkte.» Den Rettungsdienst hat Gehrig selbst noch nie in Anspruch nehmen müssen, aber viermal wurde er quasi an seinem Arbeitsplatz operiert: dreimal in Frutigen und einmal in Interlaken. «Dr. Gehrig» steht noch in einem weiteren Operationsbericht, aber unter «Assistenz»: Er durfte unter Aufsicht bei einem Karpaltunneleingriff assistieren.

Das System dahinter
Der wirtschaftliche Druck auf die Gesundheitsbetriebe stieg, die Zusammenarbeit wurde enger, grosse Investitionen in die Infrastruktur wurden nötig. Im Jahr 2000 wurde vorausschauend die Spitäler fmi AG mit den drei Standorten Frutigen, Meiringen und Interlaken gegründet. Die Strukturen beschäftigten Gehrig jahrelang, in vielen Kommissionen und Organisationen respektive Verbänden nahm er Einsitz. Das Netzwerk in der Branche, in der Region und im politischen Bern hat er die ganzen Jahre über gepflegt, auch das sei ein wichtiger Teil seines Jobs. Die damaligen Gemeindeverbände übergaben die Spitäler respektive die neu gegründete Aktiengesellschaft «Spitäler fmi AG» dann an den Kanton. Was immer blieb, waren Fragen nach den Standorten, der Versorgungssicherheit und -qualität sowie nach deren Finanzierung.

Urs Gehrig hat sich jeweils in die Diskussionen eingebracht, mitgeredet, Vorschläge ausgearbeitet und mit allen Partnern verhandelt. Heute sei es allerdings so, dass die Leistungen der Spitäler aufgrund der Pauschalen nicht hoch genug abgegolten würden. «Die anfallenden Defizite tragen die Aktiengesellschaften, das kann nicht ewig gut gehen.» Deshalb sei man auf die gut 15 Prozent Touristen unter den Akutpatienten angewiesen, die ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen und mithelfen, Kosten zu decken. Die Frage, ob man als Patient nicht zu hohe Ansprüche stelle und so die Personalund Versorgungskosten hochtreibe, müsse man sich aber auch stellen.

Geklaute Primeli und WC-Brillen
Geld spielte vielleicht ebenfalls eine Rolle, als aus dem Spital nicht nur Laptops, sondern auch Wasserhähne, WC-Brillen und Toilettenpapier geklaut wurden. Vor allem Letzteres sei jeweils im Ernstfall sehr unangenehm gewesen, erinnert sich Gehrig. Lachend zählt er weitere skurrile Diebstähle auf: «Ich kann mich sogar an einen Engpass beim Geschirr erinnern, weil plötzlich viele Kaffeelöffeli oder Tassen entwendet wurden. Auch gab es Zeiten, in denen deutlich mehr Kaffeerahm verbraucht wurde, als für den servierten Kaffee nötig war.» Einer der Höhepunkte war das spurlose Verschwinden eines Rollstuhls – oder als er selbst beobachten konnte, wie eine ältere Frau das Spital verliess und mit raschem Griff drei frisch angepflanzte Primeli in ihrer Handtasche verschwinden liess. Irgendwann mussten dann die Bettwäsche und die Handtücher mit dem Spital-Schriftzug versehen werden.

Die Zukunft des Frutiger Standorts
Das Spitalunternehmen entwickelt sich laufend weiter. In Interlaken wird seit einigen Jahren um- und ausgebaut, auch jetzt sind Baumaschinen am Werk. Diese Bauten wird Urs Gehrig im Auftrag des Verwaltungsrats noch bis zum Abschluss begleiten. Auch in Frutigen wurden Millionenbeträge investiert. «Der Standort ist im Versorgungskonzept festgehalten, sonst hätten wir sicher nicht den neuen Notfall oder den grossen Anbau Nord gebaut.» Das Spital Frutigen werde von der Bevölkerung getragen, rechtfertigen musste man sich meist gegenüber dem Kanton, wie Gehrig erklärt. Dabei habe der Standort grosse Bedeutung – nicht nur für die Einwohner selbst, sondern auch für die vielen Touristen.

«Man darf nicht vergessen, dass unser Einzugsgebiet durch die Schliessung der Spitäler im Simmental grösser geworden ist. Zudem sind wir für den Tourismus wichtig, zunehmend auch ganzjährig.» Aus Gehrigs Aussagen wird klar, dass derzeit kein Abbau im Akutbereich im Kandertal in Sicht ist. Dasselbe gilt auch für das integrierte Pflegeheim Frutigland, das mit seinen 78 Betreuungsplätzen heute eine ideale Kombination darstellt und Frutigen zusammen mit dem stetig wachsenden Psychiatriestützpunkt zu einem eigentlichen Gesundheitszentrum macht – dies insbesondere, da sich auch die eigenständige Spitex Niesen im Spital eingemietet hat.

Mit der benachbarten Thönenmatte wäre in Frutigen eine interessante Landreserve vorhanden, von der heute noch offen ist, wozu sie einmal genutzt wird.

Die Probleme blieben im Büro
«Aktiven Ruhestand» nennt man wohl das, was Urs Gehrig nach dem 31. Dezember 2021 plant. Eines seiner Hobbys ist Velofahren; die schweizquerenden Routen Alpin-Bike, Panorama-Bike und Jura-Bike hat er fast absolviert. Auch die Welt weiter zu entdecken, steht auf dem Programm. Auf einer Rubbelweltkarte markiert er die Länder, die er mit seiner Frau bereits besucht hat. Über die freizeitlichen Aktivitäten hinaus wird Gehrig weiterhin für die Zertifizierungsorganisation SanaCERT andere Spitäler beurteilen. Zudem wurde er kürzlich als Präsident des Spitexvereins Niesen für vier weitere Jahre wiedergewählt.

Urs Gehrig hat mittlerweile sechs Verwaltungsratspräsidenten bei der fmi AG erlebt, und seine eigene Funktionsbezeichnung hat sich mit zunehmender Verantwortung geändert: Aus dem Verwalter von 1993 wurde der Verwaltungsdirektor, dann der Spitaldirektor / Pflegeheimleiter (ab 2003) und seit 2010 der Vorsitzende der Geschäftsleitung der Spitäler fmi AG, heute auch als CEO bezeichnet. Mit ganz wenigen Ausnahmen habe er während dieser langen Zeit immer gut schlafen können. Probleme seien jeweils im Betrieb geblieben. Über Gehrig wird erzählt, dass er erst zu Höchstform aufläuft, wenn er Probleme zu lösen hat. Er sagt dazu: «So schlecht scheine ich es ja auch nicht gemacht zu haben, immerhin haben sie mich bis fast 67-jährig behalten.»


Auch das Personal schützen

Die nächste Corona-Welle rollt an, im Oberland ist die Impfquote relativ niedrig. Was wird in den Spitälern passieren?

«Frutigländer»: Urs Gehrig, bereitet Ihnen der kommende Winter Sorgen?
Gehrig:
Eine Zeit lang hatten wir jetzt keine Corona-Patienten, weder in Frutigen noch in Interlaken. Aber es zieht derzeit wieder spürbar an. Letzten Sonntag wurden insgesamt elf Covid-Fälle betreut, davon vier auf der Intensivstation sowie sechs auf der Station Interlaken und einer auf der Station Frutigen. Von den aktuellen Fällen ist eine Person doppelt geimpft. Eine hohe Impfquote könnte Schlimmeres verhindern. Zum Glück kam das Oberland bei den bisherigen Wellen relativ glimpflich davon. Ich hoffe, dass das auch weiterhin so bleibt.

Hoffen hilft aktuell aber kaum …
Natürlich sind wir in unseren Betrieben vorbereitet und haben die Erfahrungen aus den letzten Monaten in unsere Massnahmen integriert. Zentral ist dabei, dass wir nicht nur für die Patienten schauen, sondern auch das eigene Personal schützen.

Wie sieht es personell aus?
Unser Personal hat Respekt vor der Situation und wir alle hoffen, nicht noch einmal in die Lage zu geraten, dass Ferien verschoben werden müssen und der Druck so immens ansteigt. Gerade bei den Spezialisten haben wir spürbare Ausfälle und können dadurch nicht alle Intensivpflegebetten betreiben. Ein normaler Intensivpatient ist mit zwei Personen zu betreuen, ein Covid-Patient benötigt bis zu fünf Leute und bindet viele Ressourcen. Das ist einfach eine Tatsache. Natürlich schwindet so das Verständnis für ungeimpfte Patienten.

Wie wäre eine solche Pandemie bei Ihrem Stellenantritt 1993 verlaufen?
Schon immer gab es Epidemien, ich denke da an die Spanische Grippe. In früheren Jahrhunderten hat man die «Sieche» isoliert oder sogar weggejagt, um die Familie und die Gesellschaft zu schützen. Wir hätten die Situation auch vor 30 Jahren bewältigt. Es hätte aber wohl eine riesige Sterbewelle gegeben, die Bevölkerung wäre dezimiert worden. Es wäre sicher brutal gewesen. Mir kommen die Bilder aus Italien in den Sinn, wo die Leichen der Corona-Opfer mit Lastwagen abtransportiert wurden. Andererseits wurde früher weniger in der ganzen Welt herumgereist, die Übertragung wäre langsamer passiert und vielleicht wäre so ein Virus deshalb gar nicht bis zu uns gelangt. Aber mit unseren heutigen Mitteln können wir die Situation in den Griff kriegen – wenn wir alle mithelfen.

INTERVIEW: HANS RUDOLF SCHNEIDER

Urs Gehrig war bei Ausbruch der Pandemie im März 2020 in einem mehrwöchigen Urlaub in Neuseeland, reiste umgehend zurück, fuhr vom Flughafen direkt in sein Büro und leitete die erste Krisensitzung.


Daniela Wiest übernimmt

Nachfolgerin von Urs Gehrig als Vorsitzende der Geschäftsleitung sowie CEO wird Daniela Wiest. Nach Tätigkeiten als Geschäftsführerin und Inhaberin eines Neurozentrums im Berner Seeland, Praxisund Belegarzttätigkeiten sowie zahlreichen Mandaten in verschiedenen Verbänden und Fachschaften absolvierte sie Führungsausbildungen im Medical Management und wurde CEO der neurologischen Rehabilitationsklinik Bethesda in Tschugg.

HSF


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