«Es passierten magische Dinge»
01.04.2022 Region, GesellschaftINTEGRATION Bereits über 50 ukrainische Kinder wurden im Frutigland eingeschult. Der Unterricht ist eine Herauforderung – nicht nur wegen der Sprachbarriere, sondern auch, weil Lehrpersonal zunehmend knapp wird. Von Krisenstimmung ist im Tal bis anhin aber nichts zu spüren – im ...
INTEGRATION Bereits über 50 ukrainische Kinder wurden im Frutigland eingeschult. Der Unterricht ist eine Herauforderung – nicht nur wegen der Sprachbarriere, sondern auch, weil Lehrpersonal zunehmend knapp wird. Von Krisenstimmung ist im Tal bis anhin aber nichts zu spüren – im Gegenteil.
JULIAN ZAHND
In den Augen mancher BürgerInnen ist die Verwaltung träge, unflexibel und unnötig kompliziert. Egal, was an diesem Vorurteil dran ist: Zurzeit geben Bund und Kantone ein anderes Bild ab. Geflüchtete UkrainerInnen erhalten umstandslos Asyl, die Suche nach Unterkünften läuft auf Hochtouren. Auch die Einschulungen geflüchteter Kinder verläuft zumindest im Tal reibungslos.
57 Kinder wurden im Frutigland in den letzten zwei Wochen eingeschult, gut zwei Drittel davon in Frutigen. Bislang sei es möglich, die Kinder je nach Wohnort auf die Regelklassen zu verteilen, sagt Heidi Schmid, Leiterin der Bildungsabteilung. Einzig in der Basisstufe würden sieben Kinder täglich vom Dorf und Winklen per Schulbus nach Reinisch gefahren und dort zusammen unterrichtet. Zusätzlich zum Regelunterricht erhalten die Geflüchteten wöchentlich sechs sogenannte «DaZ»-Lektionen – Deutsch als Zweitsprache. Dieser Spezialunterricht wird normalerweise durch die Lehrpersonen des IBEM Kander- und Engstligental (Integration und besondere Massnahmen in der Volksschule) erteilt. Weil das dortige Personal mittlerweile aber ausgelastet ist, übernehmen beispielsweise an Reinisch die Lehrkräfte den DaZ-Unterricht selbst. Um die Integration zu erleichtern, werden zudem erwachsene Ukrainerinnen mit Englischkenntnissen als Betreuungspersonen im Unterricht eingesetzt.
Die ganze Situation sei schon herausfordernd, so Heidi Schmid, zumal niemand wisse, was noch auf die Gemeinden zukomme. «Ab einer gewissen Anzahl Geflüchteter wird die Integration in bereits bestehende Klassen nicht mehr möglich sein und es müssen separate Klassen, sogenannte Willkommensklassen, geschaffen werden. Damit würde sich auch die Frage nach geeignetem Schulraum und vor allem nach Zusatzpersonal stellen.»
Perfektion wird nicht angestrebt
Auch Reichenbachs Schulleiter, Bruno Grossen, erlebt momentan «turbulente» Zeiten. Der Einschulungsprozess an sich sei derweil aber sehr einfach: «Wir nehmen Alter und Adresse der Kinder auf und schulen ein. Die restliche Administration folgt dann später.» Es sei erst einmal wichtig, die Geflüchteten willkommen zu heissen, ihnen eine Bleibe und Unterricht zu vermitteln. Das alles müsse möglichst rasch gehen. «Perfektion streben wir sicher nicht an.» Selbst der Deutschunterricht habe nicht erste Priorität: «Meine Erfahrungen zeigen, dass Kinder im Werkunterricht oder in der Pause mindestens so gut deutsch lernen wie im Sprachunterricht.»
Was den Einsatz der Lehrerschaft und die Gastfreundschaft der SchülerInnen anbelangt, kommt Grossen beinahe ins Schwärmen. «Es passierten magische Dinge.» So habe etwa eine Klasse Geld zusammengelegt, um einem geflücheten Kind einen Schulrucksack zu kaufen. «SchülerInnen blicken hier fast schon neidisch auf Klassen, die jemanden aus der Ukraine in ihren Reihen haben.»
Zurzeit sind knapp 600 Stellen frei
Momentan ist die Lage in Reichenbach recht übersichtlich, die Gemeinde hat bislang nur vier ukrainische Kinder eingeschult. Was die Zukunft anbelangt, macht sich Grossen keine Illusionen: «Diese Zahl wird nun laufend steigen und uns vor neue Herausforderungen stellen.» Auch für den Schulleiter ist klar, dass es ab einem gewissen Punkt neue Klassen braucht. Ob diese in deutsch oder ukrainisch unterrichtet würden, hänge von der Entwicklung im Kriegsgebiet ab: «Sollte sich ein rasches Ende der Krise abzeichnen, wäre es nicht sinnvoll, den Kindern mit aufwändigen Mitteln eine komplett neue Sprache beizubringen.»
Was Grossen in diesem Zusammenhang ohnehin stärker beschäftigt, ist die Personalsituation. Unabhängig von dieser Krise würden allein im Kanton Bern zurzeit 590 LehrerInnen gesucht. Die aktuellen Entwicklungen dürften diese Zahl noch nach oben treiben.