Vom Bewohner zum Kunden
15.07.2022 Landwirtschaft, GesellschaftSOZIALPOLITIK Nach über zehn Jahren Vorbereitungszeit hat der Regierungsrat nun das neue Gesetz zur Behindertenunterstützung verabschiedet – und setzt damit einen Systemwechsel in Gang. Menschen mit Beeinträchtigungen müssen künftig nicht mehr in Heimen leben, um Leistungen zu ...
SOZIALPOLITIK Nach über zehn Jahren Vorbereitungszeit hat der Regierungsrat nun das neue Gesetz zur Behindertenunterstützung verabschiedet – und setzt damit einen Systemwechsel in Gang. Menschen mit Beeinträchtigungen müssen künftig nicht mehr in Heimen leben, um Leistungen zu erhalten.
BIANCA HÜSING
Regierungsrat Pierre Alain Schnegg geizte nicht mit Eigenlob, als er am Freitag das neue Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG) vorstellte. «Wir präsentieren heute nicht nur ein Gesetz, sondern ein voll funktionsfähiges System, das wir auf Knopfdruck in Betrieb nehmen können. Damit nehmen wir in der Schweiz eine Pionierrolle ein.» Eveline Zurbriggen (stellvertretende Generalsekretärin der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion GSI) sprach gar von einem «absoluten Leuchtturmprojekt».
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die GSI seit über zehn Jahren an diesem Gesetz arbeitet, dessen Verabschiedung mehrmals verschoben hat und von zentralen Neuerungen wie dem eigens erstellten Berechnungstool VIBEL wieder abgewichen ist. Auch will der Kanton deutlich weniger für den Systemwechsel ausgeben, als er einst geplant hatte. Am Kernziel ändert sich indes nichts: der Umstellung von Objekt- auf Subjektfinanzierung. Künftig gehen die Unterstützungsbeiträge für Menschen mit Behinderungen nicht mehr an die Heime und Institutionen, sondern an die Betroffenen selbst.
Auch Angehörige können bezahlt werden
Um Unterstützung zu erhalten, sind Menschen mit Behinderungen also nicht mehr an eine Institution gebunden. Wer alleine, mit Freunden oder bei Verwandten lebt, kann beispielsweise eine Assistenzperson anstellen oder ambulante Dienste (analog zur Spitex) beauftragen. Auch pflegende Angehörige können künftig entschädigt werden. Wie viel Geld den Betroffenen zusteht, wird mithilfe eines individuellen Hilfsplans (IHP) berechnet. Aus Sicht des Regierungsrats verhilft das neue Gesetz Menschen mit Behinderungen zu mehr Wahlfreiheit und Selbstbestimmung. Möglicherweise würden künftig weniger (oder weniger schnell) Heimplätze benötigt, wenn sich Betroffene auch zu Hause Unterstützung holen können.
Doch auch für Heimbewohner ändert sich etwas. Mit der Einrichtung, in der sie leben, schliessen sie individuelle Verträge ab und legen selbst fest, welche Leistungen sie in Anspruch nehmen. Diese müssen sie nicht mehr zwangsläufig vor Ort beziehen – sie können beispielsweise in einer Institution leben und trotzdem externe Hilfe zukaufen. Zudem erhalten sie ein Betreuungsbudget für Wochenenden oder Ferien, die sie ausserhalb der Einrichtung verbringen.
Abschied vom Berner Sonderweg
Mit der Umstellung auf Subjektfinanzierung weitet sich der Kreis potenzieller Leistungsbezüger erheblich aus. Nebst den rund 3000 Heimbewohnern könnten neu etwa 5000 ausserhalb von Einrichtungen lebende Menschen Unterstützung beantragen. Der Kanton Bern rechnet daher mit Mehrkosten von 20 Millionen Franken. Im Vergleich zu den 100 Millionen, die noch vor einigen Jahren veranschlagt wurden, ist das allerdings nicht viel. Ein Grund für die Drosselung der Mehrkosten ist der Verzicht auf das erwähnte Verfahren und Instrument zur individuellen Bedarfsermittlung (VIBEL). Dieses sollte differenzierte und exaktere Berechnungen ermöglichen als das Verfahren anderer Kantone, die auf Subjektfinanzierung umgestellt hatten. Doch nach einigen Jahren im Pilotversuch hat sich der Berner Sonderweg als zu teuer herausgestellt. Stattdessen greift man nun doch auf das Standardverfahren IHP zurück. Überdies soll es eine Bedarfsobergrenze geben. Eveline Zurbriggen vom GIS betont jedoch: «In jedem Fall ist es ein Plus gegenüber der aktuellen Situation, in der gar keine zusätzlichen behinderungsbedingten Leistungen des Kantons fliessen.»
Nächste Station: Grosser Rat
Inkrafttreten sollen die Änderungen voraussichtlich per 2024. Ab diesem Zeitpunkt können sich Menschen mit Behinderung, die nicht in Institutionen leben, für ein Bedarfsermittlungsgespräch anmelden. Bis dahin fehlt allerdings noch ein entscheidender Schritt: Die Behandlung des Gesetzes im Grossen Rat. Diese parlamentarische Phase dürfte etwa ein Jahr in Anspruch nehmen – und ob das Gesetz in der aktuellen Form angenommen wird, ist noch nicht ausgemacht.