Vom Tellerwäscher zum Geschäftsführer
23.04.2025 Serie, AdelbodenSERIE, TEIL 6 1991 kam Imer Bajrami als 22-Jähriger aus dem Kosovo in die Schweiz. Statt sein Agronomiestudium fortzusetzen, wechselte er in die Gastronomie. Heute arbeitet der Familienvater als Geschäftsführer in der «Alten Taverne» in Adelboden. Seinen Job ...
SERIE, TEIL 6 1991 kam Imer Bajrami als 22-Jähriger aus dem Kosovo in die Schweiz. Statt sein Agronomiestudium fortzusetzen, wechselte er in die Gastronomie. Heute arbeitet der Familienvater als Geschäftsführer in der «Alten Taverne» in Adelboden. Seinen Job erledigt er mit Herz und Freude.
«Ich arbeite seit gut 33 Jahren im Gastgewerbe, das ist meine Leidenschaft», sagt Imer Bajrami und ergänzt: «Ich liebe und lebe meinen Job wie am ersten Tag und bin sehr gerne unter Gästen. Am meisten Freude habe ich, wenn sie mir beim Abschied sagen, dass das Essen und der Service gut waren. Dann habe ich mein Ziel erreicht.»
Aufgewachsen ist der 55-Jährige auf einem Bauernhof mit Wasserbüffeln, Pferden, Kühen und Enten, vier Kilometer von der kosovarischen Stadt Ferizaj entfernt. «Wir waren zu Hause sieben Kinder, ich war das jüngste.» Zwei Geschwister leben heute in Deutschland, vier im Kosovo, die Eltern sind inzwischen gestorben. Von 1989 bis Ende 1990 studierte er in Pristina Agronomie, aber die politischen Bedingungen wurden für ihn unerträglich: «Jeden Tag Tränengas in den Strassen, gewalttätige Polizisten, die Regierung entliess alle albanischstämmigen Arbeiter», erinnert sich Bajrami. Dann begann der jugoslawische Bürgerkrieg.
Auf Einladung seines Bruders, der damals in der Region Thun lebte, zog Bajrami Anfang 1991 in die Schweiz und arbeitete anfänglich einige Monate bei einer Baufirma in Amsoldingen. Als diese in Konkurs ging, machte er sich in einem Altersheim nützlich. Da er aber über keine Jahresaufenthaltsbewilligung verfügte, stand er im Herbst 1992 auf der Strasse. Freiheit und Unabhängigkeit waren ihm wichtig. Deshalb wollte er unter allen Umständen in der Schweiz bleiben und nicht nach Jugoslawien in den Krieg zurückkehren. Er meldete sich bei der Fremdenpolizei in Thun.
Sternstunde in Adelboden
Deren damaliger Leiter, Herr Anliker, machte ihm den Vorschlag, sich bei Hotels und Restaurants umzuschauen. Imer Bajrami reiste nach Grindelwald, Mürren und Kandersteg, suchte das Gespräch mit Hoteliers sowie Restaurantbesitzern. «Es war nicht einfach. Teilweise wurde ich gar nicht erst vorgelassen. Da ich kein Englisch sprach, fand ich vorerst keine Stelle im Gastgewerbe.»
Dann fuhr er nach Adelboden und erlebte am 19. November 1992 im Lohnerdorf eine Sternstunde: Der damalige Geschäftsführer des Hotels Adler, Lothar Loretan, empfing ihn zu einem Gespräch und bot ihm einen Job als Küchengehilfe an. «Ich sagte sofort zu und begann am 1. Dezember 1992 im ‹Adler› als Tellerwäscher zu arbeiten.»
Seinem damaligen Chef ist Imer Bajrami bis heute dankbar: «Lothar und Käthi Loretan sorgten dafür, dass ich heute in einem Land wohne, in dem ich arbeiten und mein Leben so gestalten darf, wie ich will.» Die Loretans ermöglichten ihm 1993 einen Kurs für Serviceangestellte in Bern. Auf die Sommersaison hin wechselte er im «Adler» in den Service, 1995 wurde er zum Chef de Service befördert.
Ehefrau ist rechte und linke Hand
Ende 1996 heiratete Imer Bajrami im Kosovo seine Jugendfreundin Fatbardha und holte sie nach Adelboden. Den Tag ihrer Ankunft wird er nie vergessen: «Am 17. Februar 1997 lag im Engstligtal so viel Schnee, dass Fatbardha unverzüglich wieder abreisen wollte.» Zum Glück konnte er sie zum Bleiben überreden. «Meine Frau ist meine rechte und meine linke Hand. Wenn ich sie nicht hätte, wäre ich nicht da, wo ich heute bin», erzählt er voller Dankbarkeit.
Anfänglich arbeitete auch seine Frau im «Adler», wo sie das Frühstücksbuffet betreute. Nach einer Ausbildung zur Fachfrau für Sport-, Gesundheits- und klassische Massagen in Bern sowie in einer Kosmetikschule in Thun wechselte sie die Stelle und ist heute in Interlaken in einem grossen Hotel angestellt.
Der Ehemann dagegen blieb Adelboden treu. «Ich wollte den Loretans zurückgeben, was sie mir gegeben hatten. Sie waren immer so nett zu mir», erinnert er sich. So holte er Nick, einen Landsmann, aus dem «Bodenhüttli» in den «Adler». Im Restaurant bildeten die beiden während 16 Jahren ein von vielen Gästen geschätztes Serviceteam. Ihre Geburtstagsständchen mit der Ziehharmonika sind legendär. Nick wurde Imer Bajramis Stellvertreter. Inzwischen haben sich ihre beruflichen Wege getrennt. Nick leitet heute das Team im Hotel-Restaurant Bären.
Keine «Muslime», sondern «Menschen»
Eine Rückkehr in ihre alte Heimat war für die Bajramis nie ein Thema. In den Kosovo reist die Familie nur noch in den Ferien, leben wollen sie für immer in der Schweiz. Inzwischen sind das Ehepaar und die beiden Kinder Schweizer Bürgerinnen und Bürger.
Einfach war die Integration für die Familie im Lohnerdorf nicht. Die Bajramis sind keine praktizierenden Muslime, essen aber kein Schweinefleisch. Ihre Kinder haben sie «als Menschen erzogen, nicht als Christen oder Muslime», betont der Vater. Doch im Dorf und vor allem in der Schule bekamen die Kinder zu spüren, dass sie anders sind als die «Hiesigen». «Wir mussten ihnen mehr als einmal erklären, weshalb sie als einzige in der Klasse nicht zu einer Kinderparty eingeladen wurden», erinnert er sich.
«Ich habe in der Schweiz gelernt, dass die Kulturen doch sehr verschieden sind. Ich muss mich als Zugezogener anpassen. Wer das nicht kann, ist am falschen Ort. Wir haben als Familie daran gearbeitet», bilanziert er seine Integrationserfahrungen. Heute haben die Bajramis im Dorf viele Freunde: «Man kennt mich in Adelboden.» Fünfmal besuchte er sogar eine Probe des lokalen Männerchors. «Aber ich kann nicht singen, ich treffe die Töne nicht.» Deshalb wurde er nicht Vereinsmitglied.
Neue Stelle in der «Alten Taverne»
Als Lothar und Käthi Loretan 2022 in Pension gingen, suchte sich nicht nur Nick, sondern auch Imer Bajrami eine neue Stelle. Nach einem «sommerlichen Intermezzo» in Thun holte Werner Schmid den patentierten Wirt im November 2022 als Geschäftsleiter in die «Alte Taverne». Hier organisiert Bajrami seither den Service, die Küche, die Firmenessen und berät den Koch bei der Menüwahl. Inzwischen hat er dem historischen Lokal ein äusserst originelles Konzept verpasst: Jeweils am Wochenende lässt er – in alter Tradition – die Livemusik aufleben. Neben Schwyzerörgeli wird auch Jazz gespielt. Einmal pro Woche legt ein DJ auf. Mit diesen Begleitmassnahmen, einer ansprechenden Küche und einem professionellen Service ist dem Geschäftsleiter eine Steigerung des Umsatzes gelungen.
«Ich werde auch weiterhin jeden Tag Vollgas geben. Das ist Teil meines Berufsverständisses», betont Imer Bajrami und verabschiedet sich mit einem kräftigen Händedruck.
PETER SCHIBLI