Das Hin und Her auf dem Fusionskurs
14.06.2019 Region, Analyse, PolitikDie geplanten Kürzungen im Finanz- und Lastenausgleich (FILAG) sind vom Tisch, der Grosse Rat hat am Dienstag eine Kehrtwende vollzogen. Ist damit die Fusionspolitik der letzten Jahre gescheitert? Eine klare Linie ist jedenfalls nicht (mehr) zu erkennen.
Der Stellenwert ...
Die geplanten Kürzungen im Finanz- und Lastenausgleich (FILAG) sind vom Tisch, der Grosse Rat hat am Dienstag eine Kehrtwende vollzogen. Ist damit die Fusionspolitik der letzten Jahre gescheitert? Eine klare Linie ist jedenfalls nicht (mehr) zu erkennen.
Der Stellenwert einer Gemeinde ist kaum zu überschätzen. Hier, in der kleinsten politischen Einheit des Staats, bekommen Bürger ihre Rechte verliehen, erfüllen ihre Pflichten und erleben die Demokratie am Unmittelbarsten: an Gemeindeversammlungen, an der Urne und bei den spürbaren Auswirkungen mitbeschlossener Gesetze (Stichwort Raumplanung). Kein Wunder also, dass die Beziehung der Bürger zu ihrer Gemeinde weit inniger ist als zum Kanton oder zum Bund. Kein Wunder auch, dass Gemeinden einen besonderen Schutz geniessen – etwa in der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung. Diese stellt sicher, dass die Gemeinde als «Grundpfeiler jeder demokratischen Staatsform» weitgehend eigenständig bleibt. In vielen Schweizer Kantonen erhalten Gemeinden sogar eine uneingeschränkte Bestandsgarantie und sind damit praktisch unantastbar. Der Kanton Bern ist allerdings von dieser Garantie abgerückt, als er 2010 sein Gemeindegesetz reformierte. Seither können Orte unter bestimmten Voraussetzungen zu Fusionen gezwungen werden. Gebrauch macht der Kanton von dieser Möglichkeit bisher jedoch nicht: Er bevorzugt den «sanften Druck» durch Anreize oder Sanktionen – zum Beispiel über den Finanz- und Lastenausgleich (FILAG).
Unterstützung für die Fusionsgegner
Als der Regierungsrat neulich einen Vorschlag zur Reform des FILAG unterbreitete, war der Unmut erwartbar gross. 200 Gemeindevertreter-Innen versammelten sich zu einer «Landsgemeinde» in Wimmis und protestierten gegen die geplante Kürzung, die zulasten steuerschwacher Gemeinden gehen würde (der «Frutigländer» berichtete). In einer Resolution fordern die «Landsgemeindler» nun die Wiedereinführung des uneingeschränkten Existenzrechts ihrer Orte – und damit ein Ende jeglicher Fusionsbemühungen. Der Kanton solle nur noch freiwillige Zusammenschlüsse unterstützen oder dann eingreifen, wenn eine Gemeinde wirklich nicht mehr in der Lage ist, ihre Aufgaben zu erfüllen. Begründung: Wenn Gemeinden effizient arbeiten und gut zu haushalten wissen, muss man sie auch nicht bestrafen – eine nachvollziehbare Argumentation, für die die Fusionsgegner auch von kantonaler Seite Unterstützung bekommen. Regierungsstatthalterin Ariane Nottaris war persönlich in Wimmis, um den Versammelten zu bestätigen, dass die Grösse eines Orts nichts mit der Qualität seiner Verwaltung zu tun habe. Auch aus der Wissenschaft gibt es argumentatives Futter: Ein Wirtschaftsprofessor der Uni St. Gallen hat 142 Gemeindefusionen auf finanzielle Folgen geprüft. Sein Fazit: Fusionen führen selten zu nennenswerten Einsparungen.
Komplexere Aufgaben, weniger Freiwillige
Es gibt jedoch auch die andere Seite der Medaille: In einer vernetzten Welt, in der länderübergreifende Zusammenschlüsse und internationale Verträge immer wichtiger werden, verlieren kleine Einheiten an Bedeutung – ob sie wollen oder nicht. Auch innerhalb der Schweiz kann eine Gemeinde selbstbewusster auftreten, wenn sie eine grössere (wirtschaftliche und politische) Basis hat. Fusionsbefürworter betonen denn auch stets, dass es ihnen weniger ums Sparen geht als vielmehr um die Stärkung der Gemeinden und ihrer Strukturen. Reto Steiner vom Schweizerischen Institut für öffentliches Management meint etwa, dass die Komplexität der Gemeindeaufgaben wächst und die Suche nach geeignetem Führungspersonal schwieriger wird. Ein Blick ins Frutigland untermauert seine These: Mit Ausnahme Frutigens hat jede Gemeinde Mühe, Kandidaten für politische Mandate zu finden. Selbst Vereine ringen teilweise um ihre Existenz, weil nur noch die wenigsten Mitglieder Verantwortung übernehmen können oder wollen. Ob Ortszusammenschlüsse solche Probleme wirklich lösen oder sie im Gegenteil nicht noch verstärken würden, ist eine berechtigte Frage. Im Kanton Bern wird diese jedenfalls seit Jahren recht eindeutig beantwortet: Die Fusionsbefürworter hatten stets die Nase vorn. Und hierin liegt die eigentliche Knacknuss.
Der politische Wille ist seit vielen Jahren da
Schon im Jahr 2004 versuchte die Kantonsregierung, die Zahl der Gemeinden mithilfe von Anreizen deutlich zu reduzieren. Unter der Federführung des damaligen Krattiger Regierungsrats Werner Luginbühl erarbeitete sie ein Gesetz zur Förderung von Gemeindezusammenschlüssen. Der Grosse Rat nahm dies mit 139 zu 4 Stimmen klar an. Bewirkt hat das auf Freiwilligkeit setzende Prinzip indes wenig, weshalb der Kanton 2010 zu einer Verschärfung anhob. Er schlug eine Änderung des Gemeindegesetzes vor, die erstmals auch Zwang als ein Mittel zulassen sollte. Auch dieses Gesetz befürwortete der Grosse Rat mit 96 zu 47 Stimmen noch recht deutlich – ebenso wie die Stimmbürger an der Urne. 2012 sagten über 61 Prozent Ja zur Reform des Gemeindegesetzes und zur dazugehörigen Verfassungsänderung.
Und selbst die erwähnte FILAG-Kürzung, die auf eine Planungserklärung des FDP-Grossrats Hans-Rudolf Saxer (FDP, siehe Kasten) zurückgeht, ist 2018 vom Grossen Rat beschlossen worden (knapp mit 76 zu 71 Stimmen) – gegen den Willen des Regierungsrats, der eigentlich keine Hand ans FILAG anlegen will. Die kleine (längst nicht vollständige) Chronologie zeigt es deutlich: Der politische Wille zu mehr Fusionen ist seit geraumer Zeit vorhanden, und zwar durchaus auch in der Bevölkerung.
Kommando zurück – wie Parlamentarier ihre Meinung änderten
Plötzlich aber wird zurückgerudert. Dank zweier Motionen kam die FILAG-Reform am Dienstag erneut vor den Grossen Rat – diesmal mit entgegengesetztem Ergebnis. Der Kürzungsentscheid von 2018 wurde als «kleiner parlamentarischer Unfall» bezeichnet und mit grosser Mehrheit «behoben»: Über 100 Parlamentarier votierten dafür, die Reform zurückzunehmen. Wohlgemerkt: Die Zusammensetzung des Grossen Rats ist in der Zwischenzeit gleich geblieben. Grosse Teile der SP und der FDP haben in den vergangenen Monaten schlicht ihre Meinung geändert. Nun ist es völlig legitim und gehört zur demokratischen Willensbildung, dass man sich informiert und von guten Argumenten überzeugen lässt – auch dann, wenn sie von der Gegenseite stammen. Nur: Sollte dies nicht schon vor einer Abstimmung passieren? Was sagt es über die Haltung von Parlamentariern aus, wenn sie einen Antrag durchwinken und sich erst hinterher mit dessen Folgen auseinandersetzen? Wie ernst ist ein politisches Gremium zu nehmen, von dem man jederzeit fürchten muss, dass es seine eigenen Beschlüsse nach etwas Druck von aussen wieder rückgängig macht? Delegitimiert sich der Grosse Rat mit derlei Aktionen nicht langfristig selbst? Dabei ist es mit dem Entscheid von Dienstag noch nicht einmal getan. Die Resolution der «Landsgemeinde» geht noch weiter: Sie will eine völlige Abkehr von der Fusionspolitik – und fordert damit nichts weniger als eine Rücknahme sämtlicher demokratischer Beschlüsse zu diesem Thema seit spätestens 2004. An vorderster Front wird der Aufruf von den zwei SVP-GrossrätInnen Thomas Knutti und Barbara Josi unterstützt, die auch zur «Landsgemeinde» geladen hatten. Schon der Name dieser Versammlung liest sich wie eine Provokation. In Kantonen, die über dieses politische Instrument noch verfügen, bildet die Landsgemeinde die höchste gesetzgebende Instanz. Wer seine Veranstaltung so nennt, sendet damit also ein Signal in Richtung Grosser Rat nach dem Motto: «Die eigentliche Macht haben wir.» Heikel nur, wenn zwei gewählte Grossräte dieses Signal aussenden.
Der Grosse Rat muss sich entscheiden
Gewiss: Kein demokratischer Beschluss ist unumstösslich und im Laufe der Jahre können sich Erkenntnisse ebenso ändern wie Mehrheitsverhältnisse. Und es gibt sowohl für als auch gegen die Reduktion der Gemeindeanzahl gute Argumente. Doch irgendwann sollte eine klare Linie erkennbar sein. Nach dem Entscheid von dieser Woche und auch vor dem Hintergrund der Resolution sollte sich der Grosse Rat noch einmal grundsätzlich mit der Fusionspolitik auseinandersetzen. Will er es den Gemeinden weiterhin selbst überlassen, ob sie sich mit anderen zusammenschliessen? Dann müssen die Entscheidungsträger damit leben, dass sich wenig ändert und der Kanton Bern mit seinen 346 Gemeinden der mit Abstand kleinteiligste im ganzen Land bleibt. Oder will der Grosse Rat am Ziel festhalten und die Anzahl der Gemeinden reduzieren? Dann muss er endlich auch Schritte einleiten, die dieses Vorhaben unterstützen – auch, wenn sie wehtun und sich in Zeiten des Wahlkampfs nicht so gut verkaufen lassen.
Das sagt Grossrat Saxer
Mit seiner Planungserklärung hat Hans-Rudolf Saxer (FDP) den Stein zu einer FILAG-Reform ins Rollen gebracht. Den Widerstand gegen die ursprünglich vom Grossen Rat beschlossenen Kürzungen kann er nicht nachvollziehen. Der Vorschlag sei massvoll gewesen und habe keineswegs zum Ziel gehabt, Gemeinden zwangsweise abzuschaffen, sondern Anreize zu setzen. Die Resolution der Wimmiser «Landsgemeinde» stimme ihn als ehemaligen Gemeindepräsidenten nachdenklich. «Sie atmet den Geist des Stillstands und verkennt die ständig steigenden Anforderungen an die Gemeinden», so Saxer. «Die Aufgaben werden komplexer, der Zwang zu überkommunaler Zusammenarbeit nimmt zu, die Ansprüche der BürgerInnen steigen, die Bereitschaft zur Mitarbeit in den Behörden sinkt.»
Für die Bewältigung dieser grossen Herausforderungen sei es von Vorteil, wenn Gemeinden eine gewisse Grösse aufwiesen. «Deshalb ist es für mich matchentscheidend, dass die Gemeinden offen für Veränderungen sind und sich aktiv weiterentwickeln. Das krampfhafte Festhalten an Strukturen hat sich in der Vergangenheit noch nie bewährt – weder in der Politik noch in der Wirtschaft.»
HÜS