NATIONALRATS- UND STÄNDERATSWAHLEN 2019
22.10.2019 Region, Analyse, PolitikWo am Sonntag getanzt, geprostet und analysiert wurde
Selten befinden sich kollektiver Jubel und Ernüchterung auf so engem Raum wie am Wahltag. Dies zeigte ein Rundgang in der Hauptstadt am Sonntagabend – auf dem man erstaunlich viele Frutigländer antraf.
JULIAN ...
Wo am Sonntag getanzt, geprostet und analysiert wurde
Selten befinden sich kollektiver Jubel und Ernüchterung auf so engem Raum wie am Wahltag. Dies zeigte ein Rundgang in der Hauptstadt am Sonntagabend – auf dem man erstaunlich viele Frutigländer antraf.
JULIAN ZAHND
Auf dem Berner Rathausplatz Getümmel. Zahlreiche Politiker sind anwesend, ihre Wichtigkeit bemisst sich an der Anzahl Reporter und Gesprächspartner, die sie umgarnen. Besonders eng gehts vor dem Restaurant Volver zu und her – dem «Wahllokal» der Grünen. Regula Rytz ist bereits anwesend, lebensgross aus einer Pappwand geschnitten, ununterbrochen lächelnd. Es ist ein Siegeslächeln. Die echte Parteipräsidentin kommentiert derweil im Bundeshaus wohl gerade die laufend eintreffenden Hochrechnungen, doch bereits am späten Nachmittag weiss man hier: Die Grünen werden einen unwahrscheinlichen Wahlsieg einfahren.
Nur wenige Meter weiter kühlt sich die Stimmung merklich ab. Die Berner SVP hat sich im benachbarten Restaurant Rathaus installiert, draussen tummelt sich eine Handvoll Leute. Zwei Jungpolitiker prosten sich mit vollen Biergläsern zu, einer von ihnen ist Fabian Wyssen von der Jungen SVP. Worauf stösst die SVP in diesem Moment an? «Auf den Wahlkampf», so der Frutiger. Man habe sich in den letzten Wochen enorm für die Partei eingesetzt.
Von Katerstimmung will hier vorderhand niemand etwas wissen. Auf die Resultate angesprochen, nennen Anwesende zunächst das positive Abschneiden Werner Salzmanns, der sich bei den Ständeratswahlen letztlich auf Platz 3 klar vor der bürgerlichen Kandidatin Beatrice Simon positionieren wird. Im Nationalrat hingegen wird die SVP empfindliche Einbussen hinnehmen müssen. Ein Schock ist das nicht. Vielmehr scheint es, als hätte sich die wählerstärkste Partei bereits seit Wochen auf dieses Szenario vorbereitet.
Mit dem zurückgetretenen Adrian Amstutz habe der Partei ein wichtiges Zugpferd gefehlt, sagt Aliki Panayides, Geschäftsführerin der Kantonalpartei. Zudem habe die SVP beim Klimathema nicht wirklich Fuss fassen können. Tatsächlich beschränkte sich die Partei während des Wahlkapfs oftmals darauf, die Klimaproblematik in Frage zu stellen und den politischen Gegner zu attackieren. Inhaltliche Beiträge hingegen waren rar. Derlei Kritik tönt an diesem Nachmittag vereinzelt sogar aus den eigenen Reihen. Einige Voten gerade von Jungpolitikern zeugen davon, dass der Klimawandel hier durchaus auch inhaltlich diskutiert wird. Erstaunlicherweise fallen dabei auch Stichworte wie «Entwicklungshilfe verstärken» oder «Flugpreise erhöhen».
Im Berner «City Pub» bedienen sich die Anwesenden der glp derweil am reichhaltigen Buffet. Das Bier fliesst gut, die Parteierfolge zeichnen sich längst ab. So richtig gelöst scheint die Stimmung hier dennoch nicht. Man sei durchaus begeistert vom Resultat, sagt Samuel Moser, Lokalpolitiker aus Frutigen. Jedoch seien etliche Parteivertreter im Raum, die lieber nüchtern analisieren als ausgelassen feiern würden. Die Wahl ist zu diesem Zeitpunkt in vollem Gange, die Leinwand mit den neusten Resultaten liefert laufend neuen Diskussionsstoff aus dem Bundeshaus, auch Parteipräsident Jürg Grossen ist dabei immer wieder zu sehen.
Zu den leidenschaftlichen Analytikern gehört offenbar auch Moser selbst. Ihn freut vor allem der Wahlsieg der glp im Oberland, den er an mehreren Gründen festmacht. Einserseits sei die Partei auf lokaler Ebene sehr aktiv. Das Frutigtal bezeichnet Moser dabei sogar als Hochburg. Weiter habe die Partei erfolgreich junge Bevölkerungsschichten angesprochen und zudem auch inhaltlich gepunktet. Sowohl die positive Haltung der glp zum EU-Rahmenvertrag wie auch jene zum im Februar abgelehnten kantonalen Energiegesetz sei der Partei zuträglich gewesen, ist Moser überzeugt.
Plötzlich entsteht in der Menge Unruhe, die Hälse recken sich Richtung Leinwand, auf der die ersten Hochrechnungen zur konkreten Sitzverteilung präsentiert werden. Moser gesellt sich zu den beiden Frutigländer Kandidaten Martin Egger und Marc Allenbach, um das Geschehen zu verfolgen – und um dann letzlich doch noch in Jubel auszubrechen, als die Sitzgewinne der glp publik werden.
Zirka 19 Uhr, es dunkelt allmählich ein. Die Grünen beschallen den Rathausplatz mittlerweile mit Synthie-Pop aus den 1980-Jahren, vereinzelt setzen Anwesende zum Tanz an. Bei der SVP nebenan bleibt es erwartungsgemäss ruhig. Mittlerweile ist auch der Frutiger Nils Fiechter in Bern eingetroffen. Oberwils Gemeindeschreiber war an seinem Arbeitsplatz bis vor Kurzem noch gefordert. Tatsächlich wurden die Wahlresultate seiner Gemeinde mit grosser Verspätung veröffentlicht. Woran lag es? «Ein klassischer Anfängerfehler», antwortet Fiechter mit entwaffnender Ehrlichkeit. Man habe schlichtweg zu wenig Computer zur Verfügung gestellt, um die Wahlresultate einzuspeisen, weshalb ein Engpass entstanden sei. Bereits beugt sich Fiechter wieder über seinen Tablet-Computer, um sich über die aktuellen Resultate schlau zu machen. Sonderlich überrascht scheint auch er nicht. «Das grüne Pendel hat nun ausgeschlagen und ich kann mir gut vorstellen, dass dies in vier Jahren wieder ganz anders aussehen wird.» Was den Klimawandel anbelangt, verfolgt Fiechter klar die Parteilinie. «Unsere Aufgabe wird in den nächsten Jahren darin bestehen, die Leute über die Effekte der ganzen Klimapolitik aufzuklären.»
Es ist wohl anzunehmen, dass die Lichter im «Rathaus» bereits gelöscht waren, als das Wahlfest im «City Pub» noch in vollem Gange war. Kurz nach 20 Uhr stiess dort nämlich der Parteipräsident und frisch gewählte Nationalrat Jürg Grossen dazu, gemeinsam feierte man bis in den Montag hinein. Zu erfahren ist das vom Frutiger selbst, der sich nach wenigen Stunden Schlaf am Telefon meldet – und dabei erschöpft, aber zugleich auch gelöst wirkt.