Wann ist viel zu viel?
16.08.2024 Tourismus, Kandergrund, Blausee, Mitholz, Kandersteg, AdelbodenVerglichen mit den wirklichen Hotspots auf der Welt bewegt sich die Zahl der Reisenden hierzulande auf mässigem Niveau. Doch es gibt Ausnahmen, an den stark frequentierten Orten mehrt sich die Kritik. «Alles nur Einzelfälle», findet Schweiz Tourismus. «Solche ...
Verglichen mit den wirklichen Hotspots auf der Welt bewegt sich die Zahl der Reisenden hierzulande auf mässigem Niveau. Doch es gibt Ausnahmen, an den stark frequentierten Orten mehrt sich die Kritik. «Alles nur Einzelfälle», findet Schweiz Tourismus. «Solche Probleme kann man lösen», sagt ein betroffener Gemeinderatspräsident.
MARK POLLMEIER
Ein böses Wort geht um im Schweizer Fremdenverkehr: Overtourism. War der Begriff früher für Hotspots wie Venedig, Barcelona oder Prag reserviert, finden auch hierzulande immer mehr Einheimische, dass es jetzt langsam einmal reiche mit den Besucherströmen. Vor zwei Jahren sendete das SRF-Fernsehen seine «Bi de Lüt»-Reihe aus Adelboden. Die Frage, ob der Ort mehr oder eher weniger Tourismus brauche, zog sich schon damals wie ein roter Faden durch die Sendung. Das war sicher auch der Dramaturgie geschuldet. Doch es zeigte: Die Debatte ist in der Schweiz angekommen.
Vor allem die beliebten Ausflugsziele werden an Spitzentagen regelrecht überrannt – wobei das eigentlich der falsche Begriff ist. Viele der Tagestouristen kommen eben nicht zu Fuss oder per ÖV, sondern mit dem eigenen Auto. Überfüllte Parkplätze, Schlangen an den Kassen und Staus sind die Folge. Das sorgt an den Orten, die davon betroffen sind, für Unmut – so sehr, dass auch die Touristiker selbst das Thema nicht mehr ignorieren können.
«Die wollen gar nicht wandern»
Zusammen mit der Konferenz der regionalen Tourismusdirektoren hat Schweiz Tourismus kürzlich eine repräsentative Umfrage durchgeführt (Report Akzeptanz des Tourismus in der Schweiz). Das Ergebnis fasste Martin Nydegger, der oberste Touristiker des Landes, so zusammen: «Es gibt in der Schweiz keinen flächendeckenden Übertourismus.»
Das mag wohl stimmen – aber das hatte auch niemand behauptet. Es sind die touristischen Hotspots, an denen die Zahl der BesucherInnen als Belastung empfunden wird; auch der Kanton Bern kennt mittlerweile solche Orte. Und schaut man sich die Tourismusumfrage genauer an, findet man darin durchaus Zahlen, die aufhorchen lassen.
• Immerhin 25 Prozent der Befragten gaben an, dass sie sich in ihrem Alltag durch TouristInnen gestört fühlten («Stimme der Aussage zu» oder «stimme eher zu»).
• 23 Prozent fühlen sich an ihrem Wohnort zeitweise nicht mehr richtig zu Hause.
• 10,4 Prozent machen den Tourismus für die Teuerung verantwortlich, die sich beispielsweise in gestiegenen Wohnungspreisen niederschlägt.
• Jeweils knapp 10 Prozent beklagen Abfallprobleme und Littering sowie die Verkehrsbelastung.
• 8,4 Prozent schreiben dem Tourismus Natur- und Umweltschäden zu.
• Häufig kristisiert wird überdies der «Instagram-Tourismus», der vor allem aus der Jagd nach schönen Bildern und Videos besteht. Zitat aus der Umfrage: «Die wollen gar nicht wandern, sondern nur das Foto nachstellen, das einer auf Insta gepostet hat.»
Dass schöne Bilder aus dem Internet BesucherInnen aus fernen Ländern anziehen, weiss man auch im Frutigland. Adelboden, der wichtigste Tourismusort im Tal, ist von diesem Phänomen bisher weitgehend verschont geblieben. Zwar trifft man auch im Lohnerdorf junge Menschen, die auf der Dorfstrasse posieren und mit der Handykamera ein ums andere Foto schiessen. Dass aber ganze Karawanen zu einem bestimmten Hotspot strömen, ist in Adelboden bisher weitgehend ausgeblieben – was nicht heisst, dass das so bleiben muss. Wenn morgen ein reichweitenstarker Social-Media-Account die Engstligenfälle pusht, kann sich die Lage schnell ändern.
Was dann passiert, hat zum Beispiel die Gemeinde Iseltwald erfahren, die durch eine Netflixserie international bekannt wurde. Für einen bestimmten Steg zum Brienzersee musste man irgendwann ein Eintrittsgeld einführen – zu gross war der Ansturm der Selfie-Touristen geworden. Warum? Der Steg war in der Serie in einer kurzen Szene vorgekommen. Das genügte.
Ansturm der Social-Media-Touristen
Einschlägige Erfahrungen mit «Insta-Reisenden» haben auch der Blausee und vor allem der Oeschinensee. Beide Ziele haben zeitweise Mühe, den Besucherund insbesondere den Autoandrang zu bewältigen. Beim Blausee führte das phasenweise zu Rückstaus auf der Durchgangsstrasse. Durch neu erschlossene Parkplätze und einen Ordnungsdienst, der an Spitzentagen den Verkehr regelt, hat sich die Situation mittlerweile entspannt.
In Kandersteg dagegen rollen an sonnigen Sommerwochenenden nach wie vor die Autoschlangen durchs Dorf. Auch dort hat man diverse neue Parkflächen ausgewiesen. Es gibt ein Verkehrsleitsystem und Angestellte, die für Ordnung sorgen sollen. Die Gemeinde weist auf ihrer Wesbite darauf hin, dass die Parkplätze beschränkt seien, man möge doch bitte mit dem ÖV anreisen. Doch an Spitzentagen wie dem vergangenen Wochenende nützt das alles nichts. Dann staut sich der Verkehr, Autos fahren auf der Suche nach einem Parkplatz durchs Dorf, und bei der überfüllten Bahnhofmatte können die Ordner auch nur sagen: «Hier ist nichts mehr frei.» So gross war der Andrang am letzten Wochenende, dass sich abends am Oeschinensee vor der Bergstation lange Schlangen bildeten. Die Gondelbahn dehnte ihre Betriebszeiten aus und empfahl angesichts der Wartezeiten, einen der Wanderwege zurück ins Dorf zu nehmen.
Der wichtigste Wirtschaftszweig
Fälle wie Kandersteg, Lauterbrunnen oder Iseltwald seien Einzelfälle, sagt Martin Nydegger, der Direktor von Schweiz Tourismus. Noch einmal: Das mag wohl stimmen. Aber denen, die an solchen Orten leben, hilft es nicht, ein Einzelfall zu sein. Ihnen gehen die Begleiterscheinungen trotzdem auf die Nerven: Die Autoschlangen, die vielen Leute, die Respektlosigkeit, die manche an den Tag legen.
Was die Kritiker dabei aber gerne vergessen: Vielerorts ist der Tourismus auch die Haupteinnahmequelle, der wichtigste Wirtschaftszweig. In Orten wie Kandersteg oder Adelboden gibt es kaum jemanden, der von den auswärtigen Gästen nicht profitiert, wenn nicht unmittelbar, dann zumindest indirekt. Darauf weist auch René Maeder, Gemeinderatspräsident von Kandersteg und selbst Hotelier, immer wieder hin. Viel schlimmer als viele Touristen wären für sein Dorf keine Touristen, findet er. Die Gäste vergraulen zu wollen, könne sich das Dorf wortwörtlich nicht leisten.
Dass insbesondere die Verkehrssituation an manchen Tagen unbefriedigend ist, bestreitet Maeder nicht. Er ist jedoch überzeugt, dass man für solche Probleme Lösungen finden kann.
Das allerdings geht nicht von heute auf morgen. Bis das erste Parkhaus gebaut ist, muss die Gemeinde also improvisieren und versuchen, den Besucheransturm irgendwie zu managen – zur Not auch mit ungewöhnlichen Mitteln. Gestern zirkulierte in den elektronischen Medien ein Aufruf: «Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens im Dorf benötigen wir Hilfe beim Einweisen der Fahrzeuge und Einkassieren der Parkgebühren auf den Überlaufparkplätzen.» Interessierte könnten sich bei der Bauverwaltung melden.
Ein Interview mit dem Kandersteger Gemeinderatspräsidenten René Maeder lesen Sie auf Seite 3 dieser Ausgabe. Die vollständige Studie von Schweiz Tourismus zum sogenannten Overtourism finden Sie in unserer Web-Link-Übersicht.
Wozu noch Werbung?
«Feel The Love», mit diesem Claim wirbt die Tourismusoganisation Adelboden-Lenk-Kandersteg in auflagenstarken Zeitungen für die Region. Mancher findet das überflüssig – kommen nicht schon genug Leute? Ja und nein. In Kandersteg könnten es tendenziell etwas weniger sein, die anderen Orte im TALK-Perimeter könnten vielleicht ein paar Gäste mehr vertragen. Im Übrigen kann man sich fragen, was mehr Gäste anzieht: ein paar Zeitungsinserate oder Tausende schöne Bilder auf Social Media?
POL